Kurzgefasst: Ocrelizumab (Ocrevus®) ist ein Medikament zur Behandlung der aktiven schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose (MS) und der aktiven primär progredienten MS. Ocrelizumab wird halbjährlich als Infusion über eine Vene (intravenös) verabreicht. Ocrelizumab reduziert die Häufigkeit von Krankheitsschüben, reduziert die Entzündungsaktivität im MRT und verzögert das Fortschreiten der Behinderung. Ocrelizumab wird halbjährlich gegeben. Als wichtigste Nebenwirkungen treten insbesondere zu Beginn der Therapie Infusionsreaktionen auf. Darüber hinaus wurde bei Patienten unter Ocrelizumab eine höhere Infektneigung beobachtet.
Was ist Ocrelizumab (Ocrevus®)? Ocrelizumab ist ein monoklonaler Antikörper, der gegen ein Oberflächenmolekül von B-Lymphozyten, einer Untergruppe der weißen Blutkörperchen, gerichtet ist und diese Zellen im Blut reduziert. B-Zellen spielen bei der Krankheitsentstehung der MS eine wichtige Rolle.
Wie wirkt Ocrelizumab (Ocrevus®)? Die Gabe von Ocrelizumab reduziert die Anzahl der B-Zellen im Blut („B-Zell-Depletion“). Durch die Verringerung dieser wichtigen Immunzellen kann die Krankheitsaktivität der MS deutlich reduziert werden und dadurch der langfristige Krankheitsverlauf abgemildert werden. Dieser Effekt der Verminderung von B-Lymphozyten hält über viele Monate an.
Für wen ist Ocrelizumab (Ocrevus®) zugelassen? In Deutschland ist Ocrelizumab seit 2018 zur MS-Behandlung bei Erwachsenen zugelassen. Das Medikament ist zur Behandlung von Patienten mit schubförmig verlaufender MS (Relapsing Multiple Sclerosis, RMS) mit aktiver Erkrankung zugelassen. Des Weiteren besteht die Zulassung zur Behandlung von Patienten mit früher primär progredienter MS und Hinweisen in der Kernspintomografie (MRT) auf entzündliche Aktivität im Gehirn. Bei höherem Lebensalter (älter als 55 Jahre), längerer Krankheitsdauer (mehr als 15 Jahre) oder einem höheren EDSS (höher als 6,5; entsprechend 20 m Gehstrecke mit ständiger beidseitiger Gehhilfe) sollte eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vor Anwendung von Ocrelizumab vorgenommen werden.
Wie wird Ocrelizumab (Ocrevus®) verabreicht? Ocrelizumab wird als Infusion über eine Vene (intravenös) verabreicht. Die erste Dosis Ocrelizumab (600 mg) wird auf 2 Gaben verteilt. Es werden jeweils 300 mg im Abstand von 14 Tagen verabreicht. Danach erfolgt alle sechs Monate eine Infusion von 600 mg Ocrelizumab. Da insbesondere bei den ersten Gaben Infusionsreaktionen auftreten können, wird Ocrelizumab mit einer Begleitmedikation bestehend aus Steroiden, einem Fiebersenker und einem Antiallergikum verabreicht.
Wirkung (schubförmige MS)
Ocrelizumab (Ocrevus®) ist bei Patienten mit unterschiedlichen Verlaufsformen der MS untersucht worden. Die Ergebnisse zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen unterscheiden sich daher. Im Folgenden wird die Wirkung beim schubförmigen Verlauf erläutert.
Klinische Studien zur Wirksamkeit von Ocrelizumab bei aktiver schubförmig verlaufender MS
Ocrelizumab (Ocrevus®) wurde in zwei großen klinischen Studien (OPERA I und II) an insgesamt 1.656 Patienten mit schubförmiger MS über einen Zeitraum von 2 Jahren getestet. Als Vergleichssubstanz wurde in den Zulassungsstudien kein Placebo („Scheinmedikament“) verwendet, sondern das bereits zugelassene MS-Medikament Interferon-beta 1a (Rebif®). Wie in den meisten anderen MS-Zulassungsstudien wurde die Wirkung von Ocrelizumab (Ocrevus®) auf die Verhinderung klinischer Schübe, die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung und auf Läsionen in der Kernspintomografie untersucht.
In beiden OPERA-Studien wurde Ocrelizumab (600 mg) intravenös mit Interferon-beta 1a subkutan (Applikation unter die Haut; 3 x wöchentlich 44 µg) verglichen. Die teilnehmenden Patienten hatten als Hinweis auf eine aktive schubförmige MS mindestens einen dokumentierten Schub im vorangegangenen Jahr oder zwei Schübe in den vorangegangenen zwei Jahren. Die Patienten wurden zufällig einer der beiden Behandlungsgruppen zugeteilt, aber nicht informiert, welche Behandlung sie erhalten würden. Deshalb haben die Teilnehmer der Ocrelizumab-Gruppe zusätzlich zur Infusion 3 x wöchentlich Scheinmedikament-Spritzen erhalten und die Teilnehmer der Interferon-beta 1a-Gruppe erhielten neben den Spritzen entsprechend ein Scheinmedikament als Infusion.
Beide OPERA-Studien zeigten eine überlegene Wirksamkeit von Ocrelizumab gegenüber einer Behandlung mit Interferon-beta 1a. Dies gilt vor allem für das Auftreten von Schüben und die Reduktion von Aktivität in der Kernspintomografie. Im Folgenden stellen wir die Ergebnisse einer zusammenfassenden Publikation beider Studien dar. Ebenfalls fassen wir die Studiendaten zur Kernspintomografie zusammen.
Wirkung auf die Verhinderung von Krankheitsschüben
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach zwei Jahren Therapie mit Ocrelizumab oder Einnahme von Interferon-beta 1a noch schubfrei waren. Daraus kann man den absoluten Nutzen (absolute Risikoreduktion) und den relativen Nutzen (relative Risikoreduktion) berechnen.
Absoluter Nutzen: Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit Schüben in der Ocrelizumab-Gruppe (20 von 100 Patienten) von denen mit Schüben in der Interferon-beta 1a-Gruppe (33 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren im Vergleich zu Interferon-beta 1a 33-20=13, also 13 von 100 Patienten zusätzlich von der Therapie mit Ocrelizumab.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von 13 % (im Vergleich zu dem auch wirksamen Wirkstoff Interferon-beta 1a)
Relativer Nutzen: Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit Schüben dargestellt, haben in der Interferon-beta 1a-Gruppe 33 von 100 Patienten einen Schub und in der Ocrelizumab-Gruppe sind es mit 20 von 100 Patienten 13 weniger. 13 von 33 sind in Prozent umgerechnet 39%.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von 39 %
Wirkung auf die Anzahl der Schübe pro Jahr
Die jährliche Schubrate zeigt, wie viele Schübe durchschnittlich pro Jahr pro Patient auftraten. Sie lag in der Interferon-beta 1a-Gruppe bei 0,29 Schüben gegenüber 0,16 in der Ocrelizumab-Gruppe. Anders ausgedrückt: Die Patienten in der Interferon-beta 1a-Gruppe haben im Durchschnitt alle 3,5 Jahre einen Schub, die Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe nur alle 7 Jahre.
Wirkung auf die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung
Die Behinderungsprogression wird innerhalb einer klinischen MS-Studie gemessen, indem man untersucht, wie viel Prozent der Patienten einer Studiengruppe sich während der Studiendauer um einen EDSS-Punkt auf der Behinderungsskala verschlechtert haben (wobei diese Verschlechterung nach 3 Monaten nochmals bestätigt wird, um auch wirklich dauerhafte Veränderung zu bewerten).
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Ocrelizumab oder Interferon-beta 1a keine Zunahme der Behinderung hatten. Dargestellt sind wieder der absolute Nutzen (absolute Risikoreduktion) und der relative Nutzen (relative Risikoreduktion).
Absoluter Nutzen: Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit einer Zunahme der Behinderung in der Ocrelizumab-Gruppe (9 von 100 Patienten) von denen mit einer Zunahme der Behinderung in der Interferon-beta 1a-Gruppe (14 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren im Vergleich zu Interferon-beta 1a 14-9=5, also 5 von 100 Patienten zusätzlich von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 5 %
Relativer Nutzen: Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit einer Zunahme der Behinderung dargestellt, haben in der Interferon-beta 1a-Gruppe 14 von 100 Patienten eine Zunahme der Behinderung und in der Ocrelizumab-Gruppe sind es mit 9 von 100 Patienten 5 weniger. 5 von 14 sind in Prozent umgerechnet 36%.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 36 %
Wirkung auf die Ergebnisse der Kernspintomografie (MRT)
In der Kernspintomografie werden Kontrastmittelanreicherungen und sogenannte T2-Herde sichtbar, die als Ausdruck der Entzündung bei MS betrachtet werden. Dabei können Herde größer werden oder ganz neu auftreten.
Betrachtet man die Studiendaten zur Krankheitsaktivität in der Kernspintomografie, so waren 39 % der Patienten in der Interferon-beta 1a-Gruppe und 63 % der Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe über die Studiendauer frei von neuen oder vergrößerten T2-Herden.
70 % der Patienten in der Interferon-beta 1a-Gruppe und 95 % der Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe hatten über die Studiendauer keine Herde mit Kontrastmittelanreicherungen.
Wirkung (PPMS)
Ocrelizumab (Ocrevus®) ist bei Patienten mit unterschiedlichen Verlaufsformen der MS untersucht worden. Die Ergebnisse zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen unterscheiden sich daher. Im Folgenden werden die Wirkung und Nebenwirkungen beim primär progredienten Verlauf erläutert.
Klinische Studien zur Wirksamkeit von Ocrelizumab bei primär progredienter MS
Ocrelizumab (Ocrevus®) wurde in einer Zulassungsstudie (ORATORIO) an insgesamt 732 Patienten mit primär progredienter MS über einen Zeitraum von im Mittel 3 Jahren getestet. In die Studie eingeschlossen waren auch viele Patienten, bei denen sich die Behinderung in den letzten Jahren nicht verändert hatte. Als Vergleichssubstanz wurde ein Placebo („Scheinmedikament“) verwendet. Die Patienten wurden im Verhältnis 2:1 auf die Ocrelizumab-Gruppe (488 Patienten) und die Placebo-Gruppe (244 Patienten) verteilt. Diese Verteilung wurde zufällig vorgenommen, so dass Patienten nicht wussten, ob sie das Medikament oder ein Placebo erhielten.
Teilnehmen konnten Patienten, die zwischen 18 und 55 Jahre alt waren mit einem EDSS von 3 bis 6,5. Die MS-Diagnose durfte bei Patienten mit EDSS > 5 nicht länger als 15 Jahre her sein und bei Patienten mit einem EDSS ≤ 5 nicht länger als 10 Jahre her.
Die ORATORIO-Studie zeigte eine schwach überlegene Wirksamkeit von Ocrelizumab gegenüber Placebo. Im Folgenden stellen wir die Ergebnisse der Studie dar.
Wirkung auf die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung
Die Behinderungsprogression wird innerhalb einer klinischen MS-Studie gemessen, indem man untersucht, wie viel Prozent der Patienten einer Behandlungsgruppe sich während der Studiendauer um einen EDSS-Punkt auf der Behinderungsskala verschlechtert haben (wobei diese Verschlechterung nach 3 Monaten nochmals bestätigt wird, um auch wirklich dauerhafte Veränderung zu bewerten).
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Ocrelizumab oder Placebo keine Zunahme der Behinderung hatten. Dargestellt sind der absolute Nutzen (absolute Risikoreduktion) und der relative Nutzen (relative Risikoreduktion).
Absoluter Nutzen: Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit einer Zunahme der Behinderung in der Ocrelizumab-Gruppe (33 von 100 Patienten) von denen mit einer Zunahme der Behinderung in der Placebo-Gruppe (39 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 39-33=6, also 6 von 100 Patienten von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 6 %
Relativer Nutzen: Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit einer Zunahme der Behinderung dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 39 von 100 Patienten eine Zunahme der Behinderung und in der Ocrelizumab-Gruppe sind es mit 33 von 100 Patienten 6 weniger. 6 von 39 sind in Prozent umgerechnet 15%.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 15 %
Wirkung auf die Ergebnisse der Kernspintomografie (MRT)
In der Kernspintomografie werden Kontrastmittelanreicherungen und sogenannte T2-Herde sichtbar, die als Ausdruck der Entzündung bei MS betrachtet werden. Dabei können Herde größer werden oder ganz neu auftreten.
Betrachtet man die Studiendaten zur Krankheitsaktivität in der Kernspintomografie, so waren 32 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 75 % der Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe über die Studiendauer frei von neuen oder vergrößerten T2-Herden.
58 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 93 % der Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe hatten über die Studiendauer keine Herde mit Kontrastmittelanreicherungen.
Nebenwirkungen
Welche Nebenwirkungen hat Ocrelizumab (Ocrevus®)?
Die wesentlichen Nebenwirkungen von Ocrelizumab bei Patienten mit schubförmiger MS in den OPERA-Studien sind Infektion des Nasen-Rachen-Raums, Infektion der oberen Atemwege, Kopfschmerzen und grippeähnliche Symptome. Außerdem wurden gehäuft Infusionsreaktionen beobachtet.
Die häufigsten Nebenwirkungen im direkten Vergleich (≥ 10 % der Patienten in einer Behandlungsgruppe)
IFNß
Ocrelizumab
Infusionsreaktionen
Infektion des Nasen-Rachen-Raums
Infektion der oberen Atemwege
Kopfschmerzen
Grippeähnliche Beschwerden
Rötung der Einstichstelle
Anteil Studienpatienten
Quelle: OPERA I und II
Grundsätzlich ist wichtig zu wissen, dass Nebenwirkungen in Studien nicht nur bei den Patienten auftreten, die das Medikament erhalten, sondern auch in der Studiengruppe mit einem bekannten Medikament oder Placebo.
Laborwertveränderungen
Laborwertveränderungen
Bei den Laborwerten wurden vor allem Veränderungen der weißen Blutzellen (Lymphozyten und Granulozyten) berichtet. Hier ist innerhalb von 2 Wochen nach Therapie eine bestimmte Untergruppe der B-Lymphozyten nicht mehr nachweisbar. Der Effekt hielt unter der Therapie bis zum Studienende an. Auch das Produkt der B-Lymphozyten, die Immunglobuline, war bei einigen Patienten erniedrigt.
Infusionsreaktionen
Infusionsreaktionen
Infusionsreaktionen traten bei Ocrelizumab häufiger auf. Diese waren z. B. Juckreiz, Ausschlag, Hautreizung, Kopfschmerz, Müdigkeit, Schwindel, Atemnot, Übelkeit, Herzrasen. Die Reaktionen waren überwiegend leicht bis moderat. Bei einem Patienten der Ocrelizumab-Gruppe kam es zu einem lebensbedrohlichen Verkrampfen der Bronchien (Bronchospasmus), welches behandelt werden musste.
Am häufigsten traten Infusionsreaktionen bei der ersten Ocrelizumab-Gabe auf, bei weiteren Ocrelizumab-Gaben traten Infusionsreaktionen seltener auf und waren weniger schwer.
Infektionen
Infektionen
Insgesamt traten Infektionen etwas häufiger bei der Gabe von Ocrelizumab (Ocrevus®) auf. Diese waren vor allem Erkältungen und andere Infektionen der oberen Atemwege.
Bei 6 % der Patienten der Ocrelizumab-Gruppe und bei 3 % der Patienten der Interferon-beta 1a-Gruppe traten Infektionen durch Herpesviren auf (z. B. Herpes Zoster, „Gürtelrose“, oder Herpes Simplex, d. h. Herpes im Bereich des Mundes, „Lippenherpes“). Die Herpesinfektionen verliefen in den meisten Fällen leicht oder moderat.
Schwere Nebenwirkungen und Todesfälle
Schwere Nebenwirkungen und Todesfälle
Schwerwiegende Nebenwirkungen (schwere Infektionen, schwere injektionsbezogene Reaktionen, Krebs) kamen unter Ocrelizumab (Ocrevus®) nicht statistisch gehäuft vor. In der Vergleichsgruppe Interferon-beta 1a (Rebif® 44 µg) kam es bei 9 von 100 Patienten zu schweren Nebenwirkungen, in der Ocrelizumab-Gruppe bei 7 von 100 Patienten. Schwere Infektionen traten bei 3 von 100 Patienten unter Interferon-beta 1a und bei 1 von 100 Patienten unter Ocrelizumab auf. Es kam bei 3 Patienten in der Interferon-beta 1a-Gruppe zu Lebererkrankungen und bei 6 Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe.
Während der Studie traten 3 Todesfälle auf, 2 davon in der Interferon-beta 1a-Gruppe (Ursache: 1 Darmverschluss und 1 Suizid), 1 davon in der Ocrelizumab-Gruppe (Ursache: 1 Suizid).
Krebserkrankungen
Krebserkrankungen
Insgesamt wurden in den Zulassungsstudien 4 Krebserkrankungen unter der Therapie mit Ocrelizumab (Ocrevus®) beobachtet, in der Vergleichsgruppe, die mit Interferon-beta 1a (Rebif® 44 µg) behandelt wurde, traten 2 Krebserkrankungen auf. Die Krebsarten waren unterschiedlich, eine Häufung einer bestimmten Krebsart konnte nach Anwendung von Ocrelizumab nicht beobachtet werden.
Bezüglich Krebserkrankungen zeigte sich in der Zulassungsstudie ORATORIO zur Behandlung der primär progredienten MS (PPMS) allerdings ein differentes Ergebnis zum OPERA-Studienprogramm bei schubförmiger MS. Es wurden 11 Krebserkrankungen unter der Therapie mit Ocrelizumab (Ocrevus®) beobachtet, in der Vergleichsgruppe, die Placebo erhielt, traten 2 Krebserkrankungen auf. Die Krebsarten waren unterschiedlich, eine Häufung einer bestimmten Krebsart konnte nach Anwendung von Ocrelizumab nicht beobachtet werden. Aufgrund dieser zahlenmäßigen Differenz wurde das Auftreten von Tumorerkrankungen unter Ocrelizumab (Ocrevus®) in den Folgejahren nach Zulassung weiter beobachtet und mit Daten aus verschiedenen nationalen Krebsregistern verglichen. Dieser Abgleich zeigte kein erhöhtes Krebsrisiko bei Behandlung mit Ocrelizumab, so dass man insgesamt davon ausgehen kann, dass trotz der Differenz von Tumoren in der Zulassungsstudie für PPMS bei der Anwendung von Ocrelizumab kein erhöhtes Krebsrisiko besteht. Da allerdings jede Beeinflussung des Immunsystems das Risiko für das Auftreten von Krebserkrankungen erhöhen kann, sind regelmäßige Krebsvorsorgeuntersuchungen zu empfehlen.
Progressive multifokale Leukenzephalopathie
Progressive multifokale Leukenzephalopathie
In den Zulassungsstudien traten bei Ocrelizumab-Patienten keine Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML) auf. Die bisher dokumentierten PML-Fälle im Zusammenhang mit Ocrelizumab sind fast ausschließlich auf eine Vorbehandlung mit anderen MS-Medikamenten zurückzuführen (sog. „Carry-over-PML“). Die PML stellt somit kein spezifisches Risiko von Ocrelizumab dar. Es sollte aber bedacht werden, dass sporadische PML-Fälle grundsätzlich bei Einsatz von Medikamenten mit einer Wirkung auf das Immunsystem beobachtet werden können.
Antikörpermangel (Hypogammaglobulinämie)
Antikörpermangel (Hypogammaglobulinämie)
Aufgrund seiner Wirkung auf die B-Zell-Reihe, die auch für die Bildung von Antikörpern gegen Krankheitserreger verantwortlich sind, sollten die Antikörperspiegel vor allem der Immunglobuline der Subklasse IgG unter einer Therapie mit Ocrelizumab kontrolliert werden. In einem gewissen Anteil der Patienten zeigt sich eine Reduktion der IgG Spiegel unterhalb der Norm. In diesen Fällen sollte verstärkt auf wiederholte Infekte geachtet werden.
Einnahme
Einnahme und Therapiekontrolle bei schubförmiger sowie primär progredienter MS
Wann sollte Ocrelizumab (Ocrevus®) nicht eingenommen werden?
Ocrelizumab (Ocrevus®) sollte nicht angewandt werden bei Patienten mit:
aktiven schwerwiegenden Infektionen. Aktive Infektionen müssen vor Behandlungsbeginn vollständig abgeklungen sein.
chronischen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Hepatitis und HIV.
einer Immunschwäche.
einer innerhalb von 6 Wochen geplanten Impfung oder direkt nach Durchführung einer Impfung.
nachgewiesener Schwangerschaft oder während der Stillzeit.
aktiven Krebserkrankungen.
Wie wird die Medikamentengabe durchgeführt?
Vorbereitende Maßnahmen: Direkt vor dem Beginn jeder Ocrelizumab-Infusion werden 100 mg Kortison (z.B. Prednisolon) verabreicht. Dieses reduziert das Risiko von möglichen Infusionsreaktionen wie Juckreiz oder Ausschlag. Aus dem gleichen Grund muss ein Antiallergikum (z.B. 2 mg Clemastin) gegen mögliche Überempfindlichkeitsreaktionen gegeben werden. Zur Vorbeugung von Fieber und ähnlichen Beschwerden können darüber hinaus 1.000 mg Paracetamol oder 800 mg Ibuprofen (z.B. als Infusion oder Tablette) verabreicht werden. Alle 3 Medikamentengaben erfolgen meist als Kurzinfusion über die Vene.
Ocrelizumab-Gabe: Die Verabreichung der Vormedikamente sollte etwa eine Stunde vor Ocrelizumab-Gabe begonnen werden, die anschließende Ocrelizumab-Infusion über die Vene dauert etwa 2 – 4 Stunden.
Nachbeobachtung: Anschließend soll eine Nachbeobachtung von einer Stunde erfolgen, so dass von der Kortison-Gabe bis zum Ende der Nachbeobachtung insgesamt bis zu 5 Stunden Überwachung in der Praxis oder im MS-Zentrum nötig sein können.
Vor Therapiebeginn
Worauf ist bei Therapiebeginn mit Ocrelizumab (Ocrevus®)zu achten?
Aufklärungsgespräch: Vor der Entscheidung für eine Behandlung werden in einem ausführlichen Arzt-Patienten-Gespräch der Nutzen und die Risiken der Ocrelizumab-Therapie erläutert. Es muss genügend Zeit für den Informationsaustausch und die Entscheidungsfindung gegeben sein. Alle offenen Fragen sollten besprochen werden. Patienten müssen vor Behandlungsbeginn schriftlich in die Behandlung einwilligen.
Vorerkrankungen: Vor der Behandlung mit Ocrelizumab wird ein ausführliches Gespräch über Vorerkrankungen geführt und eine klinische Untersuchung vorgenommen. Außerdem erfolgt eine Routineblutuntersuchung (großes Blutbild, Leber- und Nierenwerte) und insbesondere eine Hepatitis-B-Serologie, auch um bestimmte Vorerkrankungen auszuschließen.
Impfungen: Weil Ocrelizumab in die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems eingreift, sollten vor Therapiebeginn alle Standardimpfungen durchgeführt werden, insbesondere die Indikationsimpfungen, die von der STIKO (Ständige Impfkommission) für Menschen mit eingeschränkter Immunfunktion empfohlen sind. Falls der Antikörperschutz gegen Windpocken (VZV) im Blut nicht ausreicht, sollte vor Beginn der Therapie eine Impfung erfolgen. Die Therapie mit Ocrelizumab kann 2 Wochen nach Gabe eines Totimpfstoffes bzw. frühestens 6 Wochen nach Gabe eines Lebendimpfstoffes begonnen werden.
Kernspintomografie (MRT): Vor Beginn einer Therapie mit Ocrelizumab sollte eine aktuelle MRT-Aufnahme Ihres Kopfes gemacht werden, nicht nur um einen Ausgangsbefund zu haben und den Therapieverlauf im Weiteren beurteilen zu können, sondern auch aus Sicherheitsaspekten.
Vortherapien: Falls Sie zuvor bereits eine Therapie erhalten haben, die das Immunsystem beeinflusst oder hemmt, müssen Sicherheitsabstände eingehalten werden. Diese richten sich nach der Wirkdauer der Medikamente. Grundsätzlich sollte sich das Blutbild nach Absetzen einer Vortherapie wieder normalisiert haben. Eine Kurzzeitbehandlung mit Kortikosteroiden (Kortison), z.B. zur Schubtherapie, ist auch während der Behandlung möglich. Sicherheitsabstände vor Therapie mit Ocrelizumab: Wenn Sie bisher keine andere MS-Therapie erhalten haben, mit Glatirameracetat, einem Interferon-beta-Präparat oder mit Dimethylfumarat / Diroximelfumarat behandelt wurden, kann die Behandlung direkt ohne Sicherheitsabstand begonnen werden. Nach der Behandlung mit Teriflunomid muss ein Sicherheitsabstand von mindestens vier Wochen eingehalten werden. Nach einer Behandlung mit den S1P-Rezeptor-Modulatoren Fingolimod oder Ozanimod muss ein Sicherheitsabstand von mindestens vier Wochen, bei Siponimod oder Ponesimod ein Abstand von ein bis zwei Wochen eingehalten werden. Nach einer Therapie mit Natalizumab bzw. dem Natalizumab-Biosimilar muss ein Behandlungsabstand von mindestens sechs bis acht Wochen eingehalten werden. Nach Mitoxantron ist ein Sicherheitsabstand von mindestens drei Monaten einzuhalten. Patienten, die mit Cladribin behandelt wurden, müssen einen Abstand von mindestens sechs Monaten einhalten. Bei Vortherapie mit Alemtuzumab, Ofatumumab oder anderen Antikörpern die zielgerichtet Immunzellen zerstören (sogenannten depletierenden Antikörpern) wird ein Abstand von mindestens sechs bis zwölf Monaten angeraten.
Was muss vor der Therapie mit Ofatumumab (Kesimpta®) kontrolliert werden?
Wir empfehlen die folgenden Kontrolluntersuchungen vor der Ocrelizumab-Therapie:
Untersuchung
Wann
Dokumentierte Aufklärung über Therapie und Risiken
vor Therapiebeginn, insbesondere bezugnehmend auf mögliche Infusionsreaktionen
Anamnese und klinische Untersuchung
vor Therapiebeginn, um Gegenanzeigen (z.B. einer schweren Infektion) zu identifizieren
Blutbild und Differenzialblutbild
vor Therapiebeginn
nach Bedarf: Immunstatus (CD19+-B-Zell-Zahlen; CD20+-B-Zell-Zahlen)
vor Therapiebeginn, um einen Ausgangswert zu bestimmen
Immunglobuline im Serum
vor Therapiebeginn, um einen Ausgangswert zu bestimmen
Urinuntersuchung, CRP-Wert
vor Therapiebeginn, um Entzündungen auszuschließen
Untersuchung auf HIV, Hepatitis B und C, Varizella-Zoster-Virus und Tuberkulose
vor Therapiebeginn, um chronisch aktive bakterielle und virale Infektionen auszuschließen
Schwangerschaftstest für gebärfähige Patientinnen
vor Therapiebeginn, um eine Schwangerschaft auszuschließen
Überprüfung des Impfstatus und gegebenenfalls Auffrischung von Impfungen
vor Therapiebeginn
Kernspintomografie des Kopfes (und eventuell des Rückenmarks)
vor Therapiebeginn, um einen Ausgangsbefund zu erstellen
Während der Therapie
Was muss während der Therapie mit Ocrelizumab (Ocrevus®)kontrolliert werden?
Wir empfehlen die folgenden Kontrolluntersuchungen während der Ocrelizumab-Therapie:
Kernspintomografie des Kopfes (und eventuell des Rückenmarks)
einmal im Jahr
Was passiert bei Schüben, die unter Ocrelizumab-Therapieauftreten?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass unter Ocrelizumab-Therapie Schübe auftreten. Falls Sie eine schubhafte Verschlechterung Ihrer MS bemerken, sollten Sie diese umgehend untersuchen lassen, um die notwendige Schubtherapie, z.B. mit Cortikosteroiden (Methylprednisolon), zu erhalten. Ocrelizumab (Ocrevus®) kann während einer Schubtherapie fortgesetzt werden, falls es als Therapie weiterhin infrage kommt.
Wie lange wird behandelt?
Ocrelizumab (Ocrevus®) wird als Dauertherapie eingesetzt. Nutzen und Risiko der Einnahme müssen laufend überprüft werden. Ein Abschätzen des Nutzens ist oft frühestens nach einem Jahr möglich. Als Hinweise für eine Wirksamkeit werden bei schubförmiger MS Schubfreiheit und das Fehlen neuer Herde im MRT angesehen. Deshalb wird ein Ausgangs-MRT des Kopfes und ein MRT nach 12 und 24 Monaten empfohlen, um Nutzen und auch mögliche Risiken abzuschätzen.
Häufige Fragen
Schwangerschaft und Stillzeit
Schwangerschaft und Stillzeit
Ocrelizumab (Ocrevus®) sollte nicht während der Schwangerschaft oder in der Stillzeit verabreicht werden. Vor Behandlungsbeginn und vor jedem neuen Behandlungszyklus muss bei Frauen im gebärfähigen Alter ein negativer Schwangerschaftstest vorliegen.
Die europäische Zulassungsbehörde empfiehlt eine Pause von 12 Monaten zwischen letzter Ocrelizumab-Gabe und Eintritt einer Schwangerschaft, was sehr konservativ und wenig pragmatisch erscheint. Änderungen dieser Verfahrensweise sollten daher abhängig von der individuellen Situation in Rücksprache mit spezialisierten MS-Zentren vorgenommen werden.
Eine unerwartete Schwangerschaft unter Ocrelizumab ist keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch. Ocrelizumab sollte aber umgehend abgesetzt bzw. nicht erneut gegeben werden. Es ist zu erwarten, dass Ocrelizumab (Ocrevus®) in die Muttermilch übergeht, ob dadurch allerdings eine Gefahr für das Neugeborene besteht wird von Experten bezweifelt. Daher sollte auch hier in Absprache mit einem spezialisierten Zentrum eine individuelle Lösung gefunden werden.
Impfungen
Impfungen
Patienten, die keinen Schutz gegenüber dem Varizella-Zoster-Virus (VZV) haben, welches Windpocken bzw. Gürtelrose auslöst, sollten vor Behandlungsbeginn gegen VZV geimpft werden. Es handelt sich hier um einen Lebendimpfstoff, bei dem lebende, aber unschädlich gemachte Erreger verwendet werden. Ob ein Schutz besteht, kann mit einer Blutuntersuchung (Messung des VZV-Antikörper-Titers) bestimmt werden. Damit die Impfung ihre Wirkung entfalten kann, darf die erste Gabe von Ocrelizumab frühestens 6 Wochen danach erfolgen.
Gegebenenfalls müssen vor dem Behandlungsbeginn mit Ocrelizumab (Ocrevus®) Impfungen ergänzt bzw. aufgefrischt werden, vor allem die von der STIKO empfohlenen Standardimpfungen. Da das Immunsystem unter Ocrelizumab-Gabe nur reduziert arbeitet, kann der Erfolg einer Impfung unter Ocrelizumab eventuell beeinträchtigt sein. Impfungen mit Totimpfstoffen sollten 6 Wochen vor Beginn der Ocrelizumab-Therapie abgeschlossen sein. Sollte die Gabe eines Lebendimpfstoffes medizinisch notwendig sein, so muss die Gabe mindestens 6 Wochen vor Behandlungsbeginn abgeschlossen sein.
Infektionen
Infektionen
Treten unter Ocrelizumab-Therapie akute Infektionen auf, so sollte unverzüglich eine Diagnostik durch Ihre Ärztin / Ihren Arzt stattfinden und eine entsprechende Behandlung eingeleitet werden. Eine Verschiebung der nächsten Ocrelizumab-Infusion kann unter diesen Umständen sinnvoll sein und sollte mit Ihrer Ärztin / Ihrem Arzt besprochen werden.
Neue Symptome
Neue Symptome
Treten unter Ocrelizumab-Therapie neue Beschwerden auf oder nehmen bestehende Beschwerden zu, wenden Sie sich bitte immer und umgehend an Ihre behandelnde Ärztin / Ihren behandelnden Arzt. Dies gilt insbesondere, wenn Ihnen oder Ihren Angehörigen ungewöhnliche Symptome bei Ihnen auffallen (z.B. epileptische Anfälle, Verhaltensauffälligkeiten, halbseitige Sehstörungen, Sprachstörungen). Wenn neue neurologische Symptome auftreten, sollte in jedem Fall eine aktuelle Kernspintomografie erfolgen, um Ursachen wie z.B. eine Hirninfektion mit Herpes-Viren oder JC-Viren (PML) so früh wie möglich zu erkennen. Nehmen Sie keine neuen Medikamente ohne Rücksprache mit Ihren behandelnden Ärzten ein.
Da in klinischen Studien unter Ocrelizumab-Behandlung einzelne Krebserkrankungen beobachtet wurden, sollten alle standardmäßigen Krebsvorsorgeuntersuchungen eingehalten werden.
Alternativen zu Ocrelizumab
Welche Alternativen bestehen zu Ocrelizumab (Ocrevus®)?
Ocrelizumab (Ocrevus®) ist eine von verschiedenen zugelassenen Therapien der schubförmigen MS. Eine systematische Vergleichsstudie wurde bisher nur mit Interferon-beta 1a (Rebif®) durchgeführt. Mittlerweile stehen mit Ofatumumab und Ublituixmab weitere zugelassene anti-CD20 Antikörper zur Verfügung, die als Alternativen in Erwägung gezogen werden können.
Bei primär progredienter MS ist Ocrelizumab das einzige zugelassene Medikament.
Literatur
Veröffentlichungen zur Zulassungsstudie:
Hauser SL, Bar-Or A, Comi G, et al. Ocrelizumab versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:221-34. Zusammenfassender Bericht der beiden Zulassungsstudien OPERA I und II bei schubförmiger MS.
Montalban X, Hauser SL, Kappos L, et al. Ocrelizumab versus placebo in primary progressive multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:209-20. Bericht der Zulassungsstudie ORATORIO bei primär progredienter MS.
Heesen C, Toussaint M, Hartmann S, Rahn A. Gepoolte Analyse der MRT-Daten aus den Zulassungsstudien OPERA I und II 2019 (Daten auf Anfrage verfügbar).
Wolinsky JS et al. Evaluation of no evidence of progression or active disease (NEPAD) in patients with primary progressive multiple sclerosis in the ORATORIO trial. Ann Neurol. 2018 Oct;84(4):527-536. Analyse der Kernspindaten der ORATORIO-Studie.