Klinische Studien

Wie funktionieren klinische <br>MS-Studien?

Damit Sie die Daten der Zulassungsstudien einordnen können, möchten wir Ihnen an dieser Stelle eine kurze Einführung zu klinischen MS-Studien geben und ein paar grundsätzliche Begriffe und Methoden erläutern.

  • Zulassungsstudien sind prospektive Studien, d.h. sie sind in die Zukunft gerichtet.
  • Darüber hinaus sind sie kontrolliert, d.h. die Wirkung des zu testenden Medikaments wird mit der Wirkung eines Scheinmedikamentes (Placebo) oder eines Vergleichsmedikaments (anderes Medikament zur Behandlung der MS) verglichen.
  • Die Zuteilung zur Behandlungsgruppe (Testmedikament) oder zur Kontrollgruppe (Placebo oder Vergleichsmedikament) erfolgt zufällig – man bezeichnet diese zufällige Zuteilung in der Fachsprache auch als Randomisierung.

Die prospektive, kontrollierte und randomisierte Studie ist somit der Goldstandard für jede Wirksamkeitsprüfung. Für eine Studie, die zur Zulassung eines Medikamentes führen soll, werden häufig mehrere hundert bis tausend Patienten in jede Untersuchungsgruppe eingeschlossen – und nur diese Studien dienen als Grundlage für die Aussagen in den Patientenhandbüchern.

Studienziele definieren

Primärer Endpunkt

Für eine klinische Studie muss ein sogenannter primärer Endpunkt, also das erstrangige Ziel der Studie, definiert werden. Nur wenn dieser erreicht wird, kann von einer positiven Wirkung des Medikaments gesprochen werden. Bei MS-Studien ist der primäre Endpunkt in der Regel die jährliche Schubrate – damit ist gemeint, wie viele Schübe im Durchschnitt pro Person pro Jahr auftreten (häufig eine Dezimalzahl). Alternativ wird manchmal auch die Anzahl der schubfreien Patienten innerhalb der Untersuchungsgruppen als primärer Endpunkt gewählt (häufig prozentual angegeben).

Sekundärer Endpunkt

Neben dem primären Endpunkt werden auch sogenannte sekundäre Endpunkte, also die zweitrangigen Ziele der Studie, untersucht. Die wichtigsten sekundären Endpunkte in klinischen MS-Studien sind die Verzögerung der Behinderungsprogression und das Auftreten von Läsionen in der Kernspintomografie.

Zur Beurteilung der Behinderungsprogression wird der EDSS (Expanded Disability Status Scale) eingesetzt, eine Skala von 0 – 10 (0 bedeutet keine Behinderung). Es wird untersucht, wie viele Patienten sich im Studienzeitraum um einen Punkt im EDSS verschlechtert haben und die Ergebnisse der Behandlungsgruppe und der Kontrollgruppe werden miteinander verglichen. In neueren Studien werden auch häufig die Ergebnisse von Kognitionstests oder Selbstauskünfte der Patienten hinsichtlich Lebensqualität, Fatigue (Erschöpfung) oder Stimmungslage als sekundäre Endpunkte untersucht.

Studienergebnisse lesen

Wie werden Studienergebnisse beschrieben?

Der Vergleich zwischen dem Ergebnis der Behandlungsgruppe und der Kontrollgruppe wird in klinischen Studien häufig nicht in absoluten Zahlen angegeben, sondern in Form von relativen Unterschieden – dies wird in klinischen Studien auch als „relative Risikoreduktion“ bezeichnet. Das Problem bei Angabe der relativen Risikoreduktion besteht darin, dass medizinische Laien häufig dazu neigen, den erreichten Effekt erheblich zu überschätzen. Das soll im Folgenden an einem Beispiel illustriert werden.

Beispiel relative Risikoreduktion

In Beispiel-Abbildung 1 sehen Sie die Reduktion der jährlichen Schubrate, die mit den drei fiktiven Testmedikamenten A, B und C gegenüber Placebo erzielt wird. Die relative Risikoreduktion von Testmedikament C ist mit 80 % beeindruckend – bezieht man sich aber nur auf diesen einzelnen Wert, so überschätzt man die Wirkung von Testmedikament C. Alle Testmedikamente bewirken nämlich in absoluten Zahlen ausgedrückt eine Reduktion der jährlichen Schubrate um 0,4 Schübe.

Placebo Testmedikament
Placebo / Testmedikament A
Placebo / Testmedikament B
Placebo / Testmedikament C

Studienergebnisse verstehen

Studienergebnisse verstehen – anhand eines Beispiels

Anhand eines grafischen Beispiels möchten wir Ihnen das Prinzip der absoluten Risikoreduktion erläutern. Wir möchten dies am Beispiel der Studiendaten von Natalizumab (Tysabri®) illustrieren, einem hochwirksamen Medikament zur Behandlung der aktiven schubförmige MS. Die Zunahme der Behinderung wurde in der Zulassungsstudie mithilfe des EDSS gemessen.

Beispiel absolute Risikoreduktion

Die Beispiel-Abbildung 2 zeigt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Natalizumab oder Einnahme von Placebo keine Zunahme der Behinderung hatten. Der Einfachheit halber sind die Ergebnisse auf 100 Patienten (Prozent) dargestellt (wobei in der Studie insgesamt 627 Patienten Natalizumab und 315 Patienten Placebo erhalten haben).

Die Darstellung der absoluten Risikoreduktion wirkt demnach unter Umständen etwas ernüchternd. Allerdings muss man in Betracht ziehen, dass in einem Beobachtungszeitraum von 2 Jahren natürlich nicht jeder MS-Betroffene, der in eine Studie eingeschlossen wird, ein Fortschreiten der Krankheit zeigt. So gesehen ist ein Vorteil von 12 % in zwei Jahren bezüglich der Behinderungsprogression ein durchaus zufriedenstellendes Ergebnis. Ein weiteres Problem ist, dass die Angabe der absoluten Risikoreduktion sich immer nur auf die aktuelle Vergleichspopulation beziehen kann und bei Vergleichen zwischen zwei Wirkstoffen (wie dies in moderneren Studien der Fall ist) nicht ganz einfach eingeordnet werden kann.

Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass es keinen optimalen Bewertungsmaßstab für die Wirkung von Medikamenten innerhalb klinischer Studien gibt. Mit Hintergrundwissen zur Nutzenbewertung sollten die Daten jedoch besser interpretierbar sein.

Nebenwirkungen einordnen

Was die unerwünschten Wirkungen (umgangssprachlich Nebenwirkungen) eines Arzneimittels angeht, so muss man wissen, dass während einer Zulassungsstudie Studienärzte (also Ärzte, die die Medikamentenprüfungen durchführen) verpflichtet sind, alle medizinischen Ereignisse bei einem Patienten ab Zeitpunkt des Studieneintritts zu dokumentieren.

Egal ob ein Zusammenhang mit der Prüfsubstanz vermutet wird oder nicht, alles wird dokumentiert. So werden zum Beispiel Schnupfen, Kopfschmerzen, eine Warze oder ein Sturz vom Fahrrad genauso dokumentiert wie schwere Infektionen, ein Leberschaden oder eine Operation. Das ist eine sehr wichtige Systematik, denn nur durch dieses Vorgehen kann man bestimmte Muster unerwünschter Wirkungen erkennen und wird auf seltene Ereignisse aufmerksam.

Diese Systematik führt allerdings dazu, dass die Rate an „Nebenwirkungen“ in Medikamentenstudien bei ca. 90 % liegt und letztlich diese Nebenwirkungslisten auch ungefiltert in der Fachinformation und den Beipackzetteln wiedergegeben werden. Während einer 2 – 3 Jahre dauernden Studie bekommen Menschen Kopfschmerzen, einen Schnupfen, Oberbauchbeschwerden oder auch mal eine Bronchitis – und daher tauchen diese „Nebenwirkungen“ auch grundsätzlich unter der Rubrik „häufige Nebenwirkungen“ bei MS-Medikamenten auf.

Letztlich interessiert den Patienten aber, welche unerwünschten Nebenwirkungen wirklich häufiger bei dem betreffenden MS-Medikament als bei der Kontrollgruppe (Placebo oder Vergleichsmedikament) aufgetreten sind. Daher haben wir in den Patientenhandbüchern die häufigsten unerwünschten Nebenwirkungen des Testmedikaments im Vergleich zur Häufigkeit in der Kontrollgruppe dargestellt. Außerdem nehmen wir zu bestimmten Aspekten wie schweren Nebenwirkungen (Krankenhausaufenthalte, Tod) oder dem Risiko für die Entstehung von Krebs gesondert Stellung. Es ist wichtig, dass Sie durch die Lektüre in der Lage sind, „Arzneimittelnebenwirkungen“ zu bewerten und Verträglichkeitsprobleme von echten Risiken abzugrenzen.

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