Das Medikament
Kurzgefasst: Cladribin (Mavenclad®) wird zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit hochaktiver schubförmiger Multipler Sklerose (MS) angewendet. Cladribin ist eine (inaktive) Medikamentenvorstufe (Prodrug), die nach Aufnahme in Zellen aktiviert wird und dann vor allem in Immunzellen in die DNS-Synthese eingreift. Hierdurch wird die Aktivierung und Vermehrung von Immunzellen gehemmt. Cladribin wird als Tablette über 2 Jahre in jeweils 2 jährlichen Behandlungszyklen gegeben – jeder Zyklus umfasst die Einnahme von Tabletten an 5 Tagen in zwei aufeinanderfolgenden Monaten. Aufgrund einer langfristigen Auswirkung auf das Immunsystem benötigt die Mehrzahl der Patienten nach Gabe der 4 Zyklen zunächst keine weitere Immuntherapie. Hinsichtlich dieser Charakteristika zählt Cladribin zu den sogenannten gepulsten Immunrekonstitutionstherapien. Durch die Einnahme von Cladribin wird die Häufigkeit von Schüben und die in der MRT feststellbare Aktivität reduziert, darüber hinaus konnte die Zunahme der Behinderung gegenüber einer Placebo-Vergleichsgruppe reduziert werden. Eine wichtige Nebenwirkung, die allerdings auch den Wirkmechanismus der Substanz widerspiegelt, ist eine Verminderung der weißen Blutzellen. Diese Verminderung betrifft vor allem eine Untergruppe dieser Zellen, die Lymphozyten. Die Anzahl der weißen Blutzellen muss deshalb in regelmäßigen Abständen bestimmt werden („großes Blutbild“).
Was ist Cladribin (Mavenclad®)?
Cladribin ist ein niedermolekulares entzündungshemmendes Medikament. Die Substanz ist eine Medikamentenvorstufe (Prodrug), die erst nach Aufnahme in die Körperzellen aktiviert wird. Die Substanz wurde ursprünglich zur Therapie der seltenen Haarzell-Leukämie entwickelt. Aufgrund der sehr ausgeprägten Wirkung auf Entzündungszellen wurden schon vor vielen Jahren erste Studien zum Einsatz bei Multipler Sklerose durchgeführt. Da diese sehr vielversprechend waren, erfolgte dann Mitte der 2000er Jahre die systematische Weiterentwicklung der Substanz als MS Therapeutikum.
Wie wirkt Cladribin (Mavenclad®)?
Wenn Cladribin in Körperzellen aufgenommen wird, erfolgt die Aktivierung der Substanz. Sie wirkt nach Aktivierung als synthetischer Antimetabolit (Nukleosidanalogon), der die Synthese neuer DNS stört. Diese Wirkung ist in Immunzellen, vor allem in B- und T-Lymphozyten, besonders ausgeprägt. Diese Immunzellen treten dann in den Prozess des programmierten Zelltodes (Apoptose) ein und können sich nicht mehr an einer Entzündungsreaktion im Rahmen der MS beteiligen. Obwohl die Halbwertzeit von Cladribin relativ kurz ist, hat die Gabe von Cladribin langfristige Auswirkungen auf die Zusammensetzung von Immunzellen und damit auch eine langanhaltende immunmodulierende Wirkung bei MS.
Für wen ist Cladribin (Mavenclad®) zugelassen?
Cladribin ist in der EU seit August 2017 für erwachsene Patienten mit hochaktiver schubförmiger Multipler Sklerose zugelassen.
Wie wird Cladribin (Mavenclad®) eingenommen?
Cladribin ist als Tablette erhältlich. Es wird in insgesamt 4 Behandlungszyklen verteilt über 2 Jahre eingenommen. Die ersten zwei Behandlungszyklen finden im ersten und zweiten Monat des ersten Therapiejahres statt, die Behandlungszyklen 3 und 4 im ersten und zweiten Monat des zweiten Therapiejahres. Jeder Behandlungszyklus umfass 4 – 5 Tage an denen je nach Körpergewicht 1 – 2 Cladribin-Tabletten eingenommen werden müssen. Die genaue Anzahl der Tabletten richtet sich nach dem Körpergewicht des Patienten/der Patientin. Pro Kilogramm Körpergewicht müssen insgesamt über 2 Jahre 3,5 mg Cladribin eingenommen werden. Wie das Einnahmeschema bei unterschiedlichem Gewicht genau aussieht, ist aus entsprechenden Tabellen ersichtlich.
Die übrigen Tage in den (ersten und zweiten) Therapiemonaten sind frei, ebenso die restlichen Monate des ersten und zweiten Therapiejahres. Aufgrund der langanhaltenden Modulation des Immunsystems können die Folgejahre unter regelmäßigem Monitoring auf neue Entzündungsaktivität ohne Therapie abgewartet werden. Bei Auftreten neuer Entzündungsaktivität (klinische Schübe, Läsionen im MRT) nach Gabe der vollständigen Cladribin-Dosis (2 Zyklen; 3,5 mg/kg KG) sollte die Immuntherapie fortgesetzt werden, Wenn die Aktivität zwischen dem 2. und 4. Therapiejahr auftritt, sollte eine alternative Therapie gewählt werden. Ab dem 5. Jahr kann die Therapie auch mit Cladribin fortgesetzt werden.
Wirkung
Klinische Studien zur Wirksamkeit von Cladribin bei aktiver schubförmig verlaufender MS
Die Wirkung von Cladribin (Mavenclad®) auf die Schubrate und die Zunahme der Behinderung wurde in der Zulassungsstudie (CLARITY) geprüft und 2010 veröffentlicht. In CLARITY wurde die Wirksamkeit von 2 unterschiedlichen Cladribin-Tabletten Dosierungen mit Placebo, also einem Scheinmedikament, verglichen. Insgesamt wurden 1.326 Patienten mit aktiver MS über einen Zeitraum von 2 Jahren untersucht. Eingeschlossen wurden Patienten, die mindestens einen Schub in den 12 Monaten vor Studienbeginn hatten.
Die Ergebnisse hier beziehen sich auf die zugelassene, niedrigere Dosierung (3,5 mg Cladribin pro Kilogramm Körpergewicht, auch: 3,5 mg / kg KG). Die in den Studien ebenfalls getestete höhere Dosierung (5,25 mg / kg KG Cladribin-Tabletten) war nicht wirksamer. Die CLARITY-Studie zeigte eine statistisch signifikant höhere Wirksamkeit des Medikaments gegenüber einer Placebo-Gabe.
Wirkung auf die Schubfreiheit
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach zwei Jahren Therapie mit Cladribin oder Einnahme von Placebo noch schubfrei waren. Daraus kann man den absoluten Nutzen (absolute Risikoreduktion) und den relativen Nutzen (relative Risikoreduktion) berechnen.
- Absoluter Nutzen:
Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit Schüben in der Cladribin-Gruppe (20 von 100 Patienten) von denen mit Schüben in der Placebo-Gruppe (39 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 39-20=19, also 19 von 100 Patienten von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 19 % - Relativer Nutzen:
Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit Schüben dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 39 von 100 Patienten einen Schub und in der Cladribin-Gruppe sind es mit 20 von 100 Patienten 19 weniger. 19 von 39 sind in Prozent umgerechnet 49%.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 49 %
Wirkung auf die Anzahl der Schübe pro Jahr
Die jährliche Schubrate zeigt, wie viele Schübe durchschnittlich pro Jahr pro Patient auftraten. Sie lag in der Placebo-Gruppe bei 0,33 Schüben gegenüber 0,14 in der Cladribin-Gruppe. Etwas verständlicher ausgedrückt: Die Patienten in der Placebo-Gruppe haben im Durchschnitt alle 3 Jahre einen Schub, die Patienten in der Cladribin-Gruppe nur alle 6,5 Jahre.
Wirkung auf die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung
Die Behinderungsprogression wird innerhalb einer klinischen MS-Studie gemessen, indem man untersucht, wie viel Prozent der Patienten einer Studiengruppe sich während der Studiendauer um einen EDSS-Punkt auf der Behinderungsskala verschlechtert haben (wobei diese Verschlechterung nach 3 Monaten nochmals bestätigt wird, um auch wirklich dauerhafte Veränderung zu bewerten).
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Cladribin oder Einnahme von Placebos keine Zunahme der Behinderung hatten. Dargestellt ist wieder der absolute Nutzen (absolute Risikoreduktion) und der relative Nutzen (relative Risikoreduktion).
- Absoluter Nutzen:
Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit einer Zunahme der Behinderung in der Cladribin-Gruppe (14 von 100 Patienten) von denen mit einer Zunahme der Behinderung in der Placebo-Gruppe (21 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 21-14=7, also 7 von 100 Patienten von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 7 % - Relativer Nutzen:
Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit einer Zunahme der Behinderung dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 21 von 100 Patienten eine Zunahme der Behinderung und in der Cladribin-Gruppe sind es mit 14 von 100 Patienten 7 weniger. 7 von 21 sind in Prozent umgerechnet 33 %.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 33 %
Langzeitdaten
Im Anschluss an die 2-jährige Kernstudie CLARITY wurde eine sogenannte Verlängerungsstudie durchgeführt, die CLARITY EXTENSION Studie.
Patienten, die in der Kernstudie Placebo erhalten hatten, erhielten nun Cladribin (3,5 mg / kg KG), und Betroffene, die in der Kernstudie Cladribin (3,5 oder 5,25 mg / kg KG) erhalten hatten, erhielten entweder erneut Cladribin (3,5 mg / kg KG) oder Placebo. Es wurden 60 % der in der CLARITY-Studie Behandelten in der Verlängerungsstudie nachbeobachtet. Einschränkend muss erwähnt werden, dass aufgrund des Cross-over-Designs nur eine geringe Zahl (n = 89) der Studienpatienten so behandelt wurde, wie die Zulassung des Präparates es vorsieht (3,5 mg / kg KG Cladribin kumulativ in Jahr 1 und Jahr 2, keine wirksame Therapie/Placebo in Jahr 3 und Jahr 4). Mit diesem Regime konnten die Ergebnisse der Kernstudie aufrechterhalten werden. Trotz der limitierten Patientenzahl in der CLARITY-EXTENSION Studie, zeigten nachfolgende Beobachtungsstudien, dass die überwiegende Mehrzahl der behandelten Patienten in Jahr 3 und 4 keine weitere Therapie mehr benötigten.
Wirkung auf die Ergebnisse der Kernspintomografie (MRT) in zwei Jahren
In der Kernspintomografie werden Kontrastmittelanreicherungen und sogenannte T2-Herde sichtbar, die als Ausdruck der Entzündung bei MS betrachtet werden. Dabei können Herde größer werden oder ganz neu auftreten.
28 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 62 % in der Cladribin-Gruppe waren über die Studiendauer frei von neuen oder vergrößerten T2-Herden. 47 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 87 % in der Cladribin-Gruppe hatten über die Studiendauer keine Herde mit Kontrastmittelanreicherungen.
Fasst man neue T2-Herde und Kontrastmittel anreichernde Herde als gesamte MRT-Aktivität zusammen, so fanden sich in der Placebo-Gruppe 25 % und in der Cladribin-Gruppe 60 % der Patienten ohne MRT-Aktivität.
Nebenwirkungen
Welche Nebenwirkungen hat Cladribin (Mavenclad®)?
In der Zulassungsstudie hatten 347 (81 %) der Patienten in der Cladribin-Gruppe Nebenwirkungen und 319 (73 %) der Patienten in der Placebo-Gruppe. Dieser Unterschied war statistisch signifikant. Bei 9 (2 %) Patienten in der Placebo-Gruppe und bei 15 (3,5 %) in der Cladribin-Gruppe führten die Nebenwirkungen zum Abbruch der Behandlung, dieser Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant.
Kopfschmerzen traten in der Placebo-Gruppe bei 17 %, in der Cladribin-Gruppe bei 24 % auf, ein Unterschied von 7 %.
Eine deutliche, jedoch vorübergehende Verminderung der Zahl der Lymphozyten (unter 500 Zellen pro Mikroliter [µl]) trat bei 20 von 100 Patienten nach Cladribin-Gabe auf und ist durch den Wirkmechanismus des Medikaments bedingt. Am Ende der 2-jährigen Zulassungsstudie lag der Wert im Mittel bei 900 Zellen/µl, also knapp unter dem Normbereich. Auch eine vorübergehende Erniedrigung der Gesamtzahl der weißen Blutkörperchen (Leukozyten) unter 3.000 Zellen/µl war in der Cladribin-Gruppe mit 5 von 100 Patienten häufiger. Dennoch kam es insgesamt nicht gehäuft zu Infektionen. Allerdings litten mehr Patienten in der Cladribin-Gruppe unter einem Herpes zoster (Gürtelrose) (2 von 100) sowie vaginalen Infektionen (2 von 100).
Die häufigsten Nebenwirkungen im direkten Vergleich
(≥ 10 % der Patienten in einer Behandlungsgruppe)