Das Medikament
Kurzgefasst: Natalizumab ist zugelassen für Erwachsene mit hochaktiver, schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose (MS). Es wird als Infusion alle 4 Wochen verabreicht. Bei einem Teil der Patienten reduziert Natalizumab die Schubrate und bremst die Zunahme der MS-bedingten Beeinträchtigungen. An wichtigen Nebenwirkungen treten auf: allergische Reaktionen und gelegentlich die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Zur Überwachung muss eine Risikoerkennung für PML mit Bluttest und MRT, evtl. auch eine Nervenwasserentnahme durchgeführt werden. Das Medikament wird in der Apotheke unter den Namen Tysabri® und Tyruko® vertrieben.
Was ist ist Natalizumab?
Natalizumab ist ein sogenannter monoklonaler Antikörper, der gentechnisch hergestellt wird.
Wie wirkt Natalizumab?
Natalizumab blockiert eine Bindungsstelle auf Lymphozyten, die wichtig ist, um die Zellen durch Blutgefäßwände ins Gehirn wandern zu lassen. Damit kann es jede Entzündungsreaktion im Gehirn drosseln. Andererseits blockiert es auch die Infektabwehr durch diese Immunzellen im Gehirn.
Für wen ist Natalizumab zugelassen?
Natalizumab ist seit 2006 von der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit hochaktiver schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose zugelassen.
Wie wird Natalizumab verabreicht?
Natalizumab (Tysabri® / Tyruko®) wird alle 4 Wochen als aufgelöstes Konzentrat von 300 mg als Kurzinfusion über ca. 60 Minuten intravenös verabreicht. Seit März 2021 steht Tysabri® auch als Injektionslösung zur subkutanen Behandlung zur Verfügung (2 Injektionsspritzen zu je 300 mg pro Injektionstermin; ebenfalls alle 4 Wochen).
Wirkung
Klinische Studien zur Wirksamkeit von Natalizumab bei schubförmiger MS
Die Wirkung von Natalizumab auf die Schubrate und die Zunahme der Behinderung wurde in 2 Zulassungsstudien (AFFIRM und SENTINEL) geprüft und die Ergebnisse im Jahr 2006 veröffentlicht.
Insgesamt wurden 2.113 Patienten mit schubförmiger MS über einen Zeitraum von 2 Jahren untersucht. Eingeschlossen wurden Patienten, die im Jahr vor Studienbeginn mindestens einen Schub hatten.
- In AFFIRM wurden 942 Patienten behandelt: 627 erhielten Natalizumab (Tysabri®) und 315 erhielten Placebo. In AFFIRM wurde Natalizumab gegen Placebo untersucht bei Patienten, die im Jahr zuvor mindestens einen Schub hatten.
- In SENTINEL wurden 1.196 Patienten behandelt: 589 erhielten Natalizumab (Tysabri®) und 582 erhielten Placebo. Aufgrund von Datenunregelmäßigkeiten wurden 25 Patienten aus der Analyse ausgeschlossen. In SENTINEL wurden Patienten eingeschlossen, die zuvor mindestens 1 Jahr mit Interferon-beta 1a behandelt wurden und unter dieser Therapie einen Schub entwickelt haben. In der Studie wurde dann der Hälfte der Patienten zusätzlich zu Interferon-beta 1a Natalizumab gegeben, die andere Hälfte erhielt nur Interferon-beta 1a. Die Studie führte jedoch nicht zu einer Zulassung der kombinierten Therapie.
- In der Verlängerungsphase der SENTINEL-Studie traten PML-Fälle auf. Bei 2 von 589 Patienten in der Gruppe, die Interferon-beta 1a und Natalizumab erhielten, entwickelte sich eine schwere Entzündung des Gehirns (Progressive Multifokale Leukenzephalopathie, PML). Ein Patient überlebte die Infektion mit schweren bleibenden Beeinträchtigungen, eine Patientin verstarb an der PML, die erst nach Ende der zweijährigen Studiendauer aufgetreten war. Nach Bekanntwerden der beiden PML-Fälle wurden die Studien gestoppt und der Vertrieb des Medikaments 2005 vorläufig eingestellt. 2007 wurde Natalizumab wieder vermarktet unter entsprechenden Auflagen und einem seither stetig weiterentwickelten Risikomanagement; die Entwicklung der PML-Fälle wird beobachtet.
- Das Natalizumab-Biosimilar Tyruko® wurde bezüglich seiner Gleichwertigkeit gegenüber Tysabri® in der ANTELOPE-Studie untersucht, wobei hier jeweils 131 Patienten Tyruko® und 133 Patienten Tysabri® erhielten über einen Zeitraum von 24 Wochen.
Im Folgenden sind die Wirkungen ausschließlich auf der Basis der Daten aus der AFFIRM-Studie mit 942 untersuchten Patienten dargestellt.
Wirkung auf die Schubfreiheit
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach zwei Jahren Therapie mit Natalizumab oder Einnahme von Placebo noch schubfrei waren. Daraus kann man den absoluten Nutzen (absolute Risikoreduktion) und den relativen Nutzen (relative Risikoreduktion) berechnen.
- Absoluter Nutzen:
Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit Schüben in der Natalizumab-Gruppe (28 von 100 Patienten) von denen mit Schüben in der Placebo-Gruppe (54 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 54-28=26, also 26 von 100 Patienten von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 26 % - Relativer Nutzen:
Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit Schüben dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 54 von 100 Patienten einen Schub und in der Natalizumab-Gruppe sind es mit 28 von 100 Patienten 26 weniger. 26 von 54 sind in Prozent umgerechnet 48%.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 48 %
Wirkung auf die Anzahl der Schübe pro Jahr
Die jährliche Schubrate zeigt, wie viele Schübe durchschnittlich pro Jahr pro Patient auftraten. Sie lag in der Placebo-Gruppe bei 0,73 Schüben gegenüber 0,23 in der Natalizumab-Gruppe. Etwas verständlicher ausgedrückt: Die Patienten in der Placebo-Gruppe haben im Durchschnitt alle 1,4 Jahre einen Schub, die Patienten in der Natalizumab-Gruppe nur alle 4,3 Jahre.
Wirkung auf die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung
Die Behinderungsprogression wird innerhalb einer klinischen MS-Studie gemessen, indem man untersucht, wie viel Prozent der Patienten einer Studiengruppe sich während der Studiendauer um einen EDSS-Punkt auf der Behinderungsskala verschlechtert haben (wobei diese Verschlechterung nach 3 Monaten nochmals bestätigt wird, um auch wirklich dauerhafte Veränderung zu bewerten).
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Natalizumab oder Einnahme von Placebo keine Zunahme der Behinderung hatten. Dargestellt sind wieder der absolute Nutzen (absolute Risikoreduktion) und der relative Nutzen (relative Risikoreduktion).
- Absoluter Nutzen:
Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit einer Zunahme der Behinderung in der Natalizumab-Gruppe (17 von 100 Patienten) von denen mit einer Zunahme der Behinderung in der Placebo-Gruppe (29 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 29-17=12, also 12 von 100 Patienten von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 12 % - Relativer Nutzen:
Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit einer Zunahme der Behinderung dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 29 von 100 Patienten eine Zunahme der Behinderung und in der Natalizumab-Gruppe sind es mit 17 von 100 Patienten 12 weniger. 12 von 29 sind in Prozent umgerechnet 41 %.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 41 %
Wirkung auf die Ergebnisse der Kernspintomografie (MRT)
In der Kernspintomografie werden Kontrastmittelanreicherungen und sogenannte T2-Herde sichtbar, die als Ausdruck der Entzündung bei MS betrachtet werden. Dabei können Herde größer werden oder ganz neu auftreten.
15 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 57 % in der Natalizumab-Gruppe waren über die Studiendauer frei von neuen oder vergrößerten T2-Herden.
72 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 97 % in der Natalizumab-Gruppe hatten über die Studiendauer keine Herde mit Kontrastmittelanreicherungen.
Wie wirksam ist Natalizumab bei sekundär progredienter MS?
2018 wurde die ASCEND-Studie veröffentlicht, in welcher die Wirksamkeit von Natalizumab gegenüber Placebo bei Patienten mit sekundär chronisch-progredienter MS (SPMS) untersucht wurde. Es sollte geprüft werden, inwiefern Natalizumab auch das schleichende Fortschreiten der Behinderung verzögern kann. 257 von 889 Patienten (29%) hatten in den vergangenen zwei Jahren vor Einschluss in die Studie noch mindestens einen Krankheitsschub (nach heutiger Bezeichnung „relapsing SPMS“ [rSPMS]), während dies bei 632 Patienten nicht mehr der Fall war („non-relapsing SPMS“ [nrSPMS]). Die Studie zeigte keine signifikante Verzögerung der Behinderungszunahme.
Dementsprechend ist der Einsatz von Natalizumab bei SPMS nicht geeignet, um das schleichende Fortschreiten der Behinderung zu verzögern. Da sich in einem Test der Handfunktion jedoch ein Nutzen von Natalizumab zeigte und das Absetzen von Natalizumab prinzipiell zum Wiederauftreten von Krankheitsschüben führen kann, sollte das Absetzen von Patienten, die unter Therapie mit Natalizumab eine SPMS entwickeln, nur nach kritischer Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen und auch nur in Rücksprache mit dem behandelnden Arzt.
Nebenwirkungen
Welche Nebenwirkungen hat Natalizumab?
Laut der Zulassungsstudie AFFIRM hatten 596 der Patienten (95 %) in der Natalizumab-Gruppe und 300 der Patienten (96 %) in der Placebo-Gruppe Nebenwirkungen. Dieser Unterschied war nicht signifikant. Bei 6 Patienten (2 %) in der Placebo-Gruppe und bei 15 Patienten in der Natalizumab-Gruppe (3 %) führten die Nebenwirkungen zum Abbruch der Behandlung.
Bei den Infektionen wurden Daten zu Harnwegsinfekten, Scheideninfektionen und Hautinfektionen zusammengefasst.
Die häufigsten Nebenwirkungen im direkten Vergleich
(≥ 10 % der Patienten in einer Behandlungsgruppe)