MS

Natalizumab

Handelsnamen Tysabri®, Tyruko®

Das Medikament

Kurzgefasst: Natalizumab ist zugelassen für Erwachsene mit hochaktiver, schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose (MS). Es wird als Infusion alle 4 Wochen verabreicht. Bei einem Teil der Patienten reduziert Natalizumab die Schubrate und bremst die Zunahme der MS-bedingten Beeinträchtigungen. An wichtigen Nebenwirkungen treten auf: allergische Reaktionen und gelegentlich die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Zur Überwachung muss eine Risikoerkennung für PML mit Bluttest und MRT, evtl. auch eine Nervenwasserentnahme durchgeführt werden. Das Medikament wird in der Apotheke unter den Namen Tysabri® und Tyruko® vertrieben.

Was ist ist Natalizumab?
Natalizumab ist ein sogenannter monoklonaler Antikörper, der gentechnisch hergestellt wird.

Wie wirkt Natalizumab?
Natalizumab blockiert eine Bindungsstelle auf Lymphozyten, die wichtig ist, um die Zellen durch Blutgefäßwände ins Gehirn wandern zu lassen. Damit kann es jede Entzündungsreaktion im Gehirn drosseln. Andererseits blockiert es auch die Infektabwehr durch diese Immunzellen im Gehirn.

Für wen ist Natalizumab zugelassen?
Natalizumab ist seit 2006 von der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit hochaktiver schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose zugelassen.

Wie wird Natalizumab verabreicht?
Natalizumab (Tysabri® / Tyruko®) wird alle 4 Wochen als aufgelöstes Konzentrat von 300 mg als Kurzinfusion über ca. 60 Minuten intravenös verabreicht. Seit März 2021 steht Tysabri® auch als Injektionslösung zur subkutanen Behandlung zur Verfügung (2 Injektionsspritzen zu je 300 mg pro Injektionstermin; ebenfalls alle 4 Wochen).

Wirkung

Die Wirkung von Natalizumab auf die Schubrate und die Zunahme der Behinderung wurde in 2 Zulassungsstudien (AFFIRM und SENTINEL) geprüft und die Ergebnisse im Jahr 2006 veröffentlicht.

Insgesamt wurden 2.113 Patienten mit schubförmiger MS über einen Zeitraum von 2 Jahren untersucht. Eingeschlossen wurden Patienten, die im Jahr vor Studienbeginn mindestens einen Schub hatten.

  • In AFFIRM wurden 942 Patienten behandelt: 627 erhielten Natalizumab (Tysabri®) und 315 erhielten Placebo. In AFFIRM wurde Natalizumab gegen Placebo untersucht bei Patienten, die im Jahr zuvor mindestens einen Schub hatten.
  • In SENTINEL wurden 1.196 Patienten behandelt: 589 erhielten Natalizumab (Tysabri®) und 582 erhielten Placebo. Aufgrund von Datenunregelmäßigkeiten wurden 25 Patienten aus der Analyse ausgeschlossen. In SENTINEL wurden Patienten eingeschlossen, die zuvor mindestens 1 Jahr mit Interferon-beta 1a behandelt wurden und unter dieser Therapie einen Schub entwickelt haben. In der Studie wurde dann der Hälfte der Patienten zusätzlich zu Interferon-beta 1a Natalizumab gegeben, die andere Hälfte erhielt nur Interferon-beta 1a. Die Studie führte jedoch nicht zu einer Zulassung der kombinierten Therapie.
  • In der Verlängerungsphase der SENTINEL-Studie traten PML-Fälle auf. Bei 2 von 589 Patienten in der Gruppe, die Interferon-beta 1a und Natalizumab erhielten, entwickelte sich eine schwere Entzündung des Gehirns (Progressive Multifokale Leukenzephalopathie, PML). Ein Patient überlebte die Infektion mit schweren bleibenden Beeinträchtigungen, eine Patientin verstarb an der PML, die erst nach Ende der zweijährigen Studiendauer aufgetreten war. Nach Bekanntwerden der beiden PML-Fälle wurden die Studien gestoppt und der Vertrieb des Medikaments 2005 vorläufig eingestellt. 2007 wurde Natalizumab wieder vermarktet unter entsprechenden Auflagen und einem seither stetig weiterentwickelten Risikomanagement; die Entwicklung der PML-Fälle wird beobachtet.
  • Das Natalizumab-Biosimilar Tyruko® wurde bezüglich seiner Gleichwertigkeit gegenüber Tysabri® in der ANTELOPE-Studie untersucht, wobei hier jeweils 131 Patienten Tyruko® und 133 Patienten Tysabri® erhielten über einen Zeitraum von 24 Wochen.

Im Folgenden sind die Wirkungen ausschließlich auf der Basis der Daten aus der AFFIRM-Studie mit 942 untersuchten Patienten dargestellt.

Wirkung auf die Schubfreiheit

Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach zwei Jahren Therapie mit Natalizumab oder Einnahme von Placebo noch schubfrei waren. Daraus kann man den absoluten Nutzen (absolute Risikoreduktion) und den relativen Nutzen (relative Risikoreduktion) berechnen.

  • Absoluter Nutzen:
    Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit Schüben in der Natalizumab-Gruppe (28 von 100 Patienten) von denen mit Schüben in der Placebo-Gruppe (54 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 54-28=26, also 26 von 100 Patienten von der Therapie.

    Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 26 %
  • Relativer Nutzen:
    Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit Schüben dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 54 von 100 Patienten einen Schub und in der Natalizumab-Gruppe sind es mit 28 von 100 Patienten 26 weniger. 26 von 54 sind in Prozent umgerechnet 48%.

    Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 48 %

Wirkung auf die Anzahl der Schübe pro Jahr

Die jährliche Schubrate zeigt, wie viele Schübe durchschnittlich pro Jahr pro Patient auftraten. Sie lag in der Placebo-Gruppe bei 0,73 Schüben gegenüber 0,23 in der Natalizumab-Gruppe. Etwas verständlicher ausgedrückt: Die Patienten in der Placebo-Gruppe haben im Durchschnitt alle 1,4 Jahre einen Schub, die Patienten in der Natalizumab-Gruppe nur alle 4,3 Jahre.

Wirkung auf die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung

Die Behinderungsprogression wird innerhalb einer klinischen MS-Studie gemessen, indem man untersucht, wie viel Prozent der Patienten einer Studiengruppe sich während der Studiendauer um einen EDSS-Punkt auf der Behinderungsskala verschlechtert haben (wobei diese Verschlechterung nach 3 Monaten nochmals bestätigt wird, um auch wirklich dauerhafte Veränderung zu bewerten).

Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Natalizumab oder Einnahme von Placebo keine Zunahme der Behinderung hatten. Dargestellt sind wieder der absolute Nutzen (absolute Risikoreduktion) und der relative Nutzen (relative Risikoreduktion).

  • Absoluter Nutzen:
    Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit einer Zunahme der Behinderung in der Natalizumab-Gruppe (17 von 100 Patienten) von denen mit einer Zunahme der Behinderung in der Placebo-Gruppe (29 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 29-17=12, also 12 von 100 Patienten von der Therapie.

    Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 12 %
  • Relativer Nutzen:
    Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit einer Zunahme der Behinderung dargestellt, haben in der Placebo-Gruppe 29 von 100 Patienten eine Zunahme der Behinderung und in der Natalizumab-Gruppe sind es mit 17 von 100 Patienten 12 weniger. 12 von 29 sind in Prozent umgerechnet 41 %.

    Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 41 %

Wirkung auf die Ergebnisse der Kernspintomografie (MRT)

In der Kernspintomografie werden Kontrastmittelanreicherungen und sogenannte T2-Herde sichtbar, die als Ausdruck der Entzündung bei MS betrachtet werden. Dabei können Herde größer werden oder ganz neu auftreten.

15 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 57 % in der Natalizumab-Gruppe waren über die Studiendauer frei von neuen oder vergrößerten T2-Herden.

72 % der Patienten in der Placebo-Gruppe und 97 % in der Natalizumab-Gruppe hatten über die Studiendauer keine Herde mit Kontrastmittelanreicherungen.

2018 wurde die ASCEND-Studie veröffentlicht, in welcher die Wirksamkeit von Natalizumab gegenüber Placebo bei Patienten mit sekundär chronisch-progredienter MS (SPMS) untersucht wurde. Es sollte geprüft werden, inwiefern Natalizumab auch das schleichende Fortschreiten der Behinderung verzögern kann. 257 von 889 Patienten (29%) hatten in den vergangenen zwei Jahren vor Einschluss in die Studie noch mindestens einen Krankheitsschub (nach heutiger Bezeichnung „relapsing SPMS“ [rSPMS]), während dies bei 632 Patienten nicht mehr der Fall war („non-relapsing SPMS“ [nrSPMS]). Die Studie zeigte keine signifikante Verzögerung der Behinderungszunahme.

Dementsprechend ist der Einsatz von Natalizumab bei SPMS nicht geeignet, um das schleichende Fortschreiten der Behinderung zu verzögern. Da sich in einem Test der Handfunktion jedoch ein Nutzen von Natalizumab zeigte und das Absetzen von Natalizumab prinzipiell zum Wiederauftreten von Krankheitsschüben führen kann, sollte das Absetzen von Patienten, die unter Therapie mit Natalizumab eine SPMS entwickeln, nur nach kritischer Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen und auch nur in Rücksprache mit dem behandelnden Arzt.

Nebenwirkungen

Welche Nebenwirkungen hat Natalizumab?

Laut der Zulassungsstudie AFFIRM hatten 596 der Patienten (95 %) in der Natalizumab-Gruppe und 300 der Patienten (96 %) in der Placebo-Gruppe Nebenwirkungen. Dieser Unterschied war nicht signifikant. Bei 6 Patienten (2 %) in der Placebo-Gruppe und bei 15 Patienten in der Natalizumab-Gruppe (3 %) führten die Nebenwirkungen zum Abbruch der Behandlung.

Bei den Infektionen wurden Daten zu Harnwegsinfekten, Scheideninfektionen und Hautinfektionen zusammengefasst.

Die häufigsten Nebenwirkungen im direkten Vergleich
(≥ 10 % der Patienten in einer Behandlungsgruppe)

Placebo Natalizumab
Infektionen
Fatigue
Infusionsreaktionen
Anteil Studienpatienten

Quelle: AFFIRM-Studie

Grundsätzlich ist wichtig zu wissen, dass Nebenwirkungen in Studien nicht nur bei den Patienten auftreten, die das Medikament erhalten, sondern auch in der Studiengruppe mit einem bekannten Medikament oder Placebo.

Infusionsreaktionen

Infusionsreaktionen

Infusionsreaktionen innerhalb von 2 Stunden nach der Infusion waren häufiger unter Natalizumab zu beobachten. Am häufigsten traten Kopfschmerzen auf.

Fatigue (Müdigkeit, Erschöpfung)

Fatigue (Müdigkeit, Erschöpfung)

Signifikant mehr Patienten unter Natalizumab klagten über Fatigue. Genauere Daten hierzu liegen nicht vor.

Allergische Reaktionen

Allergische Reaktionen

Allergische Reaktionen waren häufiger unter Natalizumab. Diese traten als Nesselsucht oder Ekzeme örtlich begrenzt oder am ganzen Körper auf. 5 von 25 Patienten mit allergischen Reaktionen hatten mehrere allergische Beschwerden, ihre Fälle wurden als Anaphylaxie gewertet. Allergische Reaktionen traten am häufigsten nach der 2. Infusion und spätestens nach der 13. Infusion auf.

Schwere Nebenwirkungen und Todesfälle

Schwere Nebenwirkungen und Todesfälle

Durch Natalizumab bedingte schwere Nebenwirkungen traten in den Studien nicht gehäuft auf. In der Natalizumab-Gruppe kam es zu 2 Todesfällen, einer durch eine Alkoholvergiftung, einer durch eine Hautkrebserkrankung.

Krebserkrankungen

Krebserkrankungen

In der Natalizumab-Gruppe traten 5 Krebserkrankungen auf und in der Placebo-Gruppe eine. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant, d. h. Krebserkrankungen traten bei Natalizumab-Gabe nicht gehäuft auf. In der Placebo-Gruppe trat ein Hautkrebs auf, unter der Gabe von Natalizumab 3 Brustkrebserkrankungen, 1 Hautkrebs und 1 Gebärmutterhalskrebs. 18 Jahre nach Zulassung gibt es weiterhin keine Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko, auch wenn grundsätzlich damit zu rechnen ist, dass Medikamente, die das Immunsystem beeinflussen, das Krebsrisiko erhöhen können. Dementsprechend wird zur Wahrnehmung der üblichen Früherkennungsuntersuchungen geraten. Patienten mit einer aktiven, bösartigen Tumorerkrankung dürfen Natalizumab nicht erhalten (ausgenommen von Patienten mit einem Basaliom [einer Form des weißen Hautkrebses]).

Infektionen

Infektionen

Infekte traten bei der Therapie mit Natalizumab etwas häufiger auf. Dies waren Atemwegsinfektionen, Grippe, Hautinfektionen, Scheideninfektionen und Blasenentzündungen. In der Natalizumab-Gruppe kam es genauso häufig wie in der Placebo-Gruppe zu ernsten Infektionen (meist Lungenentzündungen).

Laborwertveränderungen

Laborwertveränderungen

Zwischen den Behandlungsgruppen gab es keine signifikanten Unterschiede in den Laborwerten.

Neutralisierende Antikörper

Neutralisierende Antikörper

57 der Patienten (9 %) unter Natalizumab entwickelten Antikörper gegen das Medikament. Bei 37 Patienten (6 %) waren diese wiederholt nachweisbar und führten zu verstärkten Infusionsreaktionen als Ausdruck einer allergischen Reaktion. Die Antikörper führen zum Wirkungsverlust von Natalizumab (siehe auch unter „Häufige Fragen“).

Neue Nebenwirkungen nach Abschluss der Zulassungsstudien

Neue Nebenwirkungen nach Abschluss der Zulassungsstudien

In der Verlängerungsphase der SENTINEL-Studie traten die ersten 2 Fälle einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) auf.

Mittlerweile (Stand: 01.08.2023) traten 919 gemeldete Fälle bei rund 264.000 mit Natalizumab behandelten Patienten auf. Rund ein Viertel der Patienten ist an dieser Erkrankung verstorben. Über alle Patienten hinweg liegt das Risiko, eine PML unter Therapie mit Natalizumab zu entwickeln bei 3,48/1.000, d.h. einer von 287 Patienten entwickelt die Erkrankung unter Therapie. Damit handelt es sich bei dieser Komplikation um eine „gelegentlich“ auftretende Nebenwirkung (1 – 10 von 1.000 Behandelten), wobei das individuelle Risiko einzelner Patienten sich deutlich unterscheidet und über bekannte Risikofaktoren weiter eingegrenzt werden kann.

Details zu der Nebenwirkung PML und zu den Folgen der PML für die Betroffenen sind hier weiter detailliert:

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)

Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)

Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine schwere Entzündung des Gehirns. Sie wird von einem Virus (JC-Virus) verursacht, mit dem man sich im Laufe des Lebens infizieren kann. Diese Infektion verläuft üblicherweise ohne besondere Symptome. Das Virus verbleibt nach der Infektion dauerhaft im Körper, es „ruht“ beispielsweise in Zellen der Niere, aber auch in bestimmten Immunzellen.

Etwa jeder zweite MS-Patient weist im Blut Antikörper gegen das JC-Virus als Ausdruck der abgelaufenen Infektion aus. Bei diesen Patienten ist also prinzipiell anzunehmen, dass das Virus im Körper ruht.

Bei einem sehr kleinen Teil der Patienten kann sich das Virus im Körper jedoch verändern und dadurch die Fähigkeit erlangen, das Nervensystem zu infizieren. Das wird aber durch ein intaktes Immunsystem verhindert. Ob man auch Träger dieser veränderten Virusvariante ist, kann mit heutigen Methoden nicht bestimmt werden.

Aufgrund seines Wirkmechanismus kann auch Natalizumab Patienten für die Entwicklung einer PML anfällig machen, da sich im Laufe der Therapie die Anzahl der Immunzellen im Gehirn reduziert und diese Zellen etwaige eingedrungene Viren nicht neutralisieren können.

Die Verdachtsdiagnose PML lässt sich anhand relativ typischer Veränderungen in MRT-Aufnahmen des Gehirns stellen. Die PML kann zu Lähmungen, Sehstörungen, Konzentrationsproblemen, Gedächtnisdefiziten und anderen Beeinträchtigungen der Hirnfunktion und sogar zum Tode führen. Wichtig ist es bei neuen neurologischen Symptomen unter einer Therapie mit Natalizumab auch an die Möglichkeit einer PML zu denken. In einem solchen Fall muss Natalizumab sofort abgesetzt werden und eine Abklärung zum Ausschluss einer PML ist einzuleiten – hierzu sollte sowohl eine MRT-Kontrolle des Gehirns (die Frage nach einer PML ist explizit an den (Neuro)Radiologen zu stellen) und eine Lumbalpunktion zur Untersuchung des Nervenwassers durchgeführt werden. Entscheidend für die Prognose der Erkrankung ist es, die Funktion des Immunsystems wiederherzustellen. Die Virusinfektion selbst kann nicht kausal behandelt werden.

PML-Risiko nach der Zulassung

PML-Risiko nach der Zulassung

PML trat zunächst in der Verlängerungsphase der SENTINEL-Studie auf. Bei 2 von 589 Patienten in der Gruppe, die Interferon-beta 1a und Natalizumab erhielten, entwickelte sich eine PML. Ein Patient überlebte die Infektion mit schweren bleibenden Beeinträchtigungen, eine Patientin verstarb an der PML. Nach Bekanntwerden der beiden PML-Fälle wurden die Studien gestoppt und der Vertrieb des Medikaments 2005 vorläufig eingestellt. Seit 2006 wird Natalizumab wieder vermarktet und seitdem wurden weitere PML-Fälle, die in Zusammenhang mit der Gabe des Medikaments auftraten, systematisch erfasst.

Bis zum 01.08.2023 wurden weltweit 264.000 Patienten mit Natalizumab behandelt. Hierunter wurden 919 PML-Fälle gemeldet, d.h. das Gesamtrisiko liegt bei 3,48/1.000 Patienten (oder 1/287 Patienten wie oben bereits genannt). Tendenziell hat die Anzahl neuer Fälle pro Jahr damit in den letzten Jahren etwas abgenommen (2017: 4,2/1.000 Patienten entsprechend 1/237 Patienten).

Das Risiko des einzelnen Patienten hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab, die kurz dargestellt werden sollen (die im Folgenden dargestellten Zahlen basieren auf dem letzten verfügbaren Modell von 2017):

  • Patienten, die Antikörper gegen das JC-Virus aufweisen, das Virus also prinzipiell im Körper tragen, haben ein Risiko von 1/132 für die Entwicklung einer PML. Bei Patienten, die keine Antikörper aufweisen, liegt dies bei 1/10.000. Das Auftreten einer PML ist bei Patienten ohne JC-Antikörper also sehr selten, nicht aber ausgeschlossen.

Bei JCV-Antikörper-positiven Patienten gilt dann:

  • Innerhalb der ersten zwei Jahre nach Therapie ist das Risiko, eine PML zu entwickeln deutlich geringer und liegt bei 1/932 Patienten. Bei den Patienten jenseits des 24. Therapiemonats steigt dieses Risiko auf 1/88 an.
  • Patienten, die im Vorfeld der Behandlung mit Natalizumab eine immunsuppressive Therapie erhalten haben, haben jenseits des 24. Therapiemonats ein Risiko von 1/31 (vorher: 1:330).
  • Bei Patienten, die keine solche Therapie in ihrem Leben vorher erhalten haben, kann der sog. „JCV-Antikörper-Index“ herangezogen werden, um das Risiko weiter einzuschätzen. Liegt dieser unter einem Wert von 0,9 (Test vom Hersteller von Tysabri®; der Hersteller von Tyruko® gibt einen Wert von 0,8 für seinen Test als entsprechenden Grenzwert an), beträgt das Risiko 1/748. Bei Patienten, die diesen Wert überschritten haben, steigt das Risiko auf 1/101 an.
Kann man das PML-Risiko abschätzen?

Kann man das PML-Risiko abschätzen?

Dementsprechend kann der behandelnde Arzt die 3 Risikofaktoren

  • Therapiedauer
  • Vorbehandlung mit Immunsuppressiva
  • JC-Virus-Antikörperindex

zur individuellen Risikoeinschätzung heranziehen. Nach Abschluss des zweiten Behandlungsjahres ist eine erneute Beratung über das PML-Risiko erforderlich und mit dem Patienten gemeinsam soll das weitere Vorgehen festgelegt werden.

 

1.Therapiedauer
Das Risiko einer PML nimmt mit der Dauer der Natalizumab-Therapie zu. Prinzipiell besteht auch schon zu Beginn der Behandlung ein Risiko. Im ersten Therapiejahr entwickeln jedoch nur etwa 0,05 von 1.000 Behandelten eine PML, im dritten Jahr sind es etwa 1,5 von 1.000 (Stand 28.12.2018). Bei JCV-positiven Patienten ist das Risiko 0,6 von 1.000 in den ersten 2 Jahren, im dritten Jahr dann bei 2 von 1.000.

 

2. Vorbehandlung mit Immunsuppressiva
Eine Vorbehandlung mit einem der Medikamente Mitoxantron, seltener Cyclophosphamid, Azathioprin, Mycophenolat Mofetil oder Methotrexat kann vermutlich das PML-Risiko erhöhen. Bei Vorbehandlung mit einem dieser Medikamente ist das Risiko im ersten Jahr 0,3 von 1.000, im zweiten Jahr 0,4 von 1.000, im dritten Jahr dann 4 von 1.000 und im vierten Jahr 8 von 1.000. Der Effekt einer Vorbehandlung mit den neueren Medikamenten Teriflunomid, Dimethylfumarat, Fingolimod, Alemtuzumab, Cladribin und Ocrelizumab lässt sich noch nicht abschätzen.

 

3. JC-Virus-Antikörperindex (JCV-AK-Index)
Dieser Wert zeigt die Menge an Antikörpern (AK) gegen das JC-Virus im Blut (sogenannte Indexwerte) und ist damit ein Hinweis auf das Risiko, eine PML zu entwickeln. Je höher der Antikörperindex, desto wahrscheinlicher wird die Gefahr einer PML. Möglicherweise ist auch eine Zunahme des Antikörper-Indexwerts bei JCV-positiven Patienten ein Hinweis auf eine PML. Die Daten hierzu sind bislang jedoch nicht ausreichend. Mit einem niedrigen Antikörper-Indexwert (< 0,9) besteht bei einem JCV-AK-positiven Patienten innerhalb der ersten beiden Jahre ein ähnliches Risiko wie bei einem JCV-AK-negativen Patienten. Nach der letzten Schätzung aus Daten von 125.000 Patienten liegt das Risiko, bei negativem Antikörperstatus zu erkranken, bei 1:10.000. Insgesamt sind weltweit 5 zuerst AK-negative Patienten beschrieben, die dann eine PML entwickelt haben. Bei 4 von diesen Patienten war der AK dann positiv. Umgekehrt erhöht ein hoher Antikörperindex (> 1,5) das Risiko auf 3 – 10 Fälle / 1.000 ab dem 3. Therapiejahr.

In Deutschland sind während der Natalizumab-Therapie bei ca. 60 % der Patienten Antikörper gegen das JC-Virus nachweisbar. Bei Gesunden entwickeln jährlich ca. 2 von 100 eine Antikörperantwort, haben sich also mit dem Virus auseinandergesetzt, ohne krank zu werden. Das Paul-Ehrlich Institut (PEI) als die deutsche Aufsichtsbehörde für Arzneimittel hat ein Überwachungskonzept mit Ärzten und der Herstellerfirma Biogen entwickelt. Dafür ist die wiederholte Bestimmung des JCV-AK-Index wichtig.

Wie verlässlich sind die Zahlen zu den PML-Fällen?

Wie verlässlich sind die Zahlen zu den PML-Fällen?

Diese Angaben beruhen auf den vom Hersteller von Tysabri® erhobenen Zahlen und entstammen den offiziellen Meldungen der Fälle. Der Hersteller von Tyruko® hat bisher noch keine Fälle einer PML gemeldet. Trotz Bemühungen von Firmen, Behörden und Ärzteschaft sind jedoch womöglich nicht alle Natalizumab-Patienten weltweit erfasst. Deshalb kann nicht sicher ausgeschlossen werden, dass noch weitere Fälle vorliegen.  Dementsprechend sollte Natalizumab nur von in der Behandlung von MS-Patienten entsprechend erfahrenen Ärzten eingesetzt werden.

Welche Folgen hat eine PML für die betroffenen Patienten?

Welche Folgen hat eine PML für die betroffenen Patienten?

Definitive Aussagen zum Krankheitsverlauf bei Patienten, die unter Natalizumab eine PML entwickelten, sind derzeit nicht möglich. Stand August 2023 sind etwa ein Viertel der Patienten infolge der Erkrankung verstorben.

Bei 566 bestätigten PML-Fällen (Stichtag: 4.06.2015) liegen Details zur Diagnosestellung und zum Verlauf vor. Von diesen Patienten waren bei Diagnose 62 (11 %) asymptomatisch (d. h. ohne PML-Symptome), zeigten aber PML-typische MRT-Befunde und Nachweise von JC-Virus im Nervensystem. Die übrigen 504 (89 %) betroffenen Patienten zeigten bei Diagnose bereits Beschwerden der PML. Es überlebten 95,2 % der Patienten ohne Beschwerden bei Diagnose und 74,2 % der Patienten mit Beschwerden bei Diagnose.

Grundsätzlich kann die Erkrankung infolge klinischer Symptome diagnostiziert werden, d.h. der Patient leidet bereits an neurologischen Ausfällen, oder die Erkrankung ist noch asymptomatisch, wird aber durch typische Veränderungen im MRT auffällig. In den systematisch erfassten Fällen war etwa 1/10 Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose symptomatisch, während 9/10 Patienten noch keine Symptome, aber typische MRT-Veränderungen hatten.

Dies unterstreicht die Notwendigkeit, im Rahmen des Risikomanagements regelmäßige MRT-Untersuchungen unter Therapie wahrzunehmen, wobei in Abhängigkeit des Risikoprofils unterschiedliche Abstände zwischen den MRT-Untersuchungen empfohlen werden.

Die überlebenden Patienten weisen Beeinträchtigungen unterschiedlicher Schweregrade auf. Genauere Information hierzu sind schwierig zu erhalten.

Für 118 überlebende Patienten mit PML wurden in der Vergangenheit exemplarisch detailliertere Informationen zur Beeinträchtigung veröffentlicht. Direkt nach der PML-Diagnose und auch längere Zeit später waren diese Patienten im Durchschnitt deutlich schwerer beeinträchtigt als vor der PML.

Von 38 Überlebenden mit Verlaufskontrollen von mindestens 6 Monaten haben 5 (13 %) leichte Beeinträchtigungen (selbständiges Leben möglich), 19 (50 %) mittelschwere Beeinträchtigungen (einige Hilfen nötig) und 14 (37 %) schwere Beeinträchtigungen (deutliche Hilfen nötig). Eine genauere Analyse der ersten 25 Überlebenden zeigte, dass ein früheres Erkennen der Erkrankung und eine geringe Ausprägung der MRT-Veränderungen mit einem günstigeren Verlauf verbunden waren.

Ferner waren die Überlebenden jünger, waren geringer beeinträchtigt bei Diagnosestellung und hatten bei Diagnosestellung weniger JC-Viren im Nervenwasser.

Gibt es bei der PML typische Krankheitszeichen?

Gibt es bei der PML typische Krankheitszeichen?

Nein, die betroffenen Patienten entwickelten zunehmende Lähmungen, Sehstörungen, epileptische Anfälle, Beeinträchtigungen der Denkfunktionen oder Sprachstörungen, einzelne auch Wesensveränderungen. Im Einzelfall sind die Symptome einer PML schwer von den Folgen eines MS-Schubs oder einer fortschreitenden MS zu unterscheiden. Da Krankheitsschübe unter Natalizumab insgesamt sehr selten sind, sollte bei neu aufgetretenen Symptomen eines Patienten stets auch an das Vorliegen einer PML gedacht werden.

Wie wird die PML-Diagnose gestellt?

Wie wird die PML-Diagnose gestellt?

Bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen der Erkrankung werden zunächst eine MRT-Untersuchung des Kopfes durchgeführt, um nach typischen Veränderungen zu suchen. Der Nachweis des Virus im Nervensystem selbst erfolgt über eine Nervenwasseruntersuchung mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR).

Diese Untersuchung wird häufig in Referenzlaboren durchgeführt (da nicht alle Labore diese Untersuchung anbieten), wozu die Probe entsprechend durch die behandelnden Ärzte verschickt wird.

Bei anhaltendem Verdacht auf das Vorliegen einer PML kann es gegebenenfalls notwendig sein, das Nervenwasser wiederholt zu untersuchen, da insbesondere in der Frühphase der Erkrankung das Virus noch nicht im Nervenwasser nachweisbar ist.

Bei fortgesetztem starkem Krankheitsverdacht (aufgrund von entsprechenden Symptomen und Veränderungen im MRT) und wiederholt negativer Nervenwasseruntersuchung kann im Einzelfall die Sicherung der Diagnose mittels Probenentnahme aus dem Gehirn („Biopsie“) erforderlich sein.

Wie wird die PML behandelt?

Wie wird die PML behandelt?

Die Virusvermehrung im Nervensystem selbst kann nicht kausal behandelt werden. Dementsprechend gilt es, die Funktion des Immunsystem wieder so herzustellen, dass es das Virus auch im Gehirn bekämpfen kann. Dies bedeutet also vorrangig, die Therapie mit Natalizumab zu beenden, damit die vormals blockierten Immunzellen wieder über die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem eindringen können. In Einzelfällen kann auch erwogen werden, Natalizumab mittels Blutwäsche aktiv aus dem Körper zu entfernen. Der Nutzen dieser Intervention ist aber nicht eindeutig bewiesen und eine solche Prozedur sollte daher durch spezialisierte Zentren abgewogen werden. Ansonsten stehen lediglich experimentelle Verfahren zur Verfügung, die in einzelnen Fallberichten mit gemischtem Erfolg angewandt wurden. Eine Beratung über solche Verfahren sollte ebenfalls durch spezialisierte Zentren erfolgen.

Einnahme

Wann sollte Natalizumab nicht eingenommen werden?

Natalizumab (Tysabri®/Tyruko®) sollte nicht eingenommen bei

  • Immungeschwächten Patienten, z. B. durch eine HIV-Infektion.
  • Patienten mit aktiven Tumorerkrankungen (ausgenommen weißer Hautkrebs).
  • PML in der Vorgeschichte.

Die Risikoabwägung sollte anhand der oben beschriebenen Parameter bei jedem Patienten vor Einleitung der Therapie erfolgt sein und soll regelmäßig neu bestimmt werden.

Wie wird die Medikamentengabe durchgeführt?

Natalizumab sollte nur in Zentren mit Erfahrung in der Gabe von Antikörpertherapien und mit der Möglichkeit einer sofortigen Notfallversorgung verabreicht werden. Dies gilt sowohl für die Infusion von Tysabri® oder Tyruko® als auch für die Injektion von Tysabri®. Die Infusion von 300 mg Tysabri erfolgt in 100 ml Kochsalzlösung über eine Stunde. Die Injektion erfolgt in Form zweier Fertigspritzen zu je 150 mg an zwei ausreichend weit voneinander entfernen Körperstellen in das Unterhautfettgewebe.

Durchführung und Monitoring während der Gabe:
Die Dauer der Infusion beträgt eine Stunde, die Nachbeobachtung eine weitere Stunde. Auch nach der Injektion ist eine Nachbeobachtung für eine Stunde obligat. Maßnahmen und Infrastruktur für die Akuttherapie anaphylaktischer Reaktionen müssen am behandelnden Zentrum vorhanden sein.

Vor Therapiebeginn

Worauf ist bei Therapiebeginn mit Natalizumab zu achten?

Aufklärungsgespräch: Vor der Entscheidung für eine Behandlung werden in einem ausführlichen Arzt-Patienten-Gespräch der Nutzen und die Risiken der Natalizumab-Therapie erläutert. Es muss genügend Zeit für den Informationsaustausch und die Entscheidungsfindung gegeben sein. Alle offenen Fragen sollten besprochen werden. Patienten müssen vor Behandlungsbeginn schriftlich in die Behandlung einwilligen.

Vorerkrankungen: Vor der Behandlung mit Natalizumab wird ein ausführliches Gespräch über Vorerkrankungen geführt und eine klinische Untersuchung vorgenommen. Außerdem erfolgt eine Routineblutuntersuchung (großes Blutbild, Leber- und Nierenwerte) und insbesondere eine Hepatitis-B-Serologie, auch um bestimmte Vorerkrankungen auszuschließen.

Impfungen: Weil Natalizumab das Immunsystem hemmt, sollten vor Therapiebeginn alle Standardimpfungen durchgeführt werden, die die STIKO (Ständige Impfkommission) für Menschen empfiehlt, deren Immunsystem teilweise blockiert werden soll.

Kernspintomografie (MRT): Vor Beginn einer Therapie mit Natalizumab sollte eine aktuelle MRT-Aufnahme Ihres Kopfes gemacht werden, nicht nur um einen Ausgangsbefund zu haben und den Therapieverlauf im Weiteren beurteilen zu können, sondern auch aus Sicherheitsaspekten.

Vortherapien: Falls Sie zuvor bereits eine Therapie erhalten haben, die das Immunsystem beeinflusst oder hemmt, müssen Sicherheitsabstände eingehalten werden. Diese richten sich nach der Wirkdauer der Medikamente. Grundsätzlich sollte sich das Blutbild nach Absetzen einer Vortherapie wieder normalisiert haben. Eine Kurzzeitbehandlung mit Kortikosteroiden (Kortison), z.B. zur Schubtherapie, ist auch während der Behandlung möglich. Sicherheitsabstände vor Therapie mit Natalizumab: Nach Absetzen von Glatirameracetat, einem Interferon-beta-Präparat oder Dimethylfumarat / Diroximelfumarat ist kein bestimmter Sicherheitsabstand einzuhalten, sofern keine Lymphopenie oder laborchemische Hinweise auf Leber- bzw. Nierenfunktionsstörungen bestehen. Bei einer Umstellung von Teriflunomid wird ein Sicherheitsabstand von mindestens vier Wochen empfohlen. Der Sicherheitsabstand nach Absetzen von S1P-Rezeptor-Modulatoren Fingolimod oder Ozanimod ist mindestens vier Wochen, bei Siponimod und Ponesimod ein bis zwei Wochen, nach Absetzen von Mitoxantron, Azathioprin oder Methotrexat mindestens drei Monate, nach Cladribin mindestens sechs Monate und nach Alemtuzumab, Ocrelizumab und Ofatumumab mindestens sechs bis zwölf Monate.

Was muss vor der Therapie mit Natalizumab kontrolliert werden?

Wir empfehlen die folgenden Kontrolluntersuchungen vor der Natalizumab-Therapie:

UntersuchungWann
Dokumentierte Aufklärung über Therapie und Risikenvor Therapiebeginn
Anamnese und klinische Untersuchungvor Therapiebeginn
Blutbild und Differenzialblutbildvor Therapiebeginn
Leber- und Nierenwertevor Therapiebeginn
Urinstatus, CRPvor Therapiebeginn
Infektionssuche (insb. chronische aktive bakterielle und virale Infektionen)vor Therapiebeginn
Hepatitis B, Hepatitis C, VZ-Virus, HI-Virusvor Therapiebeginn
Schwangerschaftvor Therapiebeginn
MRTvor Therapiebeginn
JC-Virus-Antikörperindexvor Therapiebeginn

Während der Therapie

Was muss während der Natalizumab Therapie kontrolliert werden?

Wir empfehlen folgende Kontrolluntersuchungen während der Natalizumab-Therapie:

UntersuchungWann / Häufigkeit
klinisch-neurologische Untersuchungalle 3 Monate
Großes Blutbild alle 3-6 Monate
Infektionssuchevor jeder Infusion/Injektion
Leberwertealle 3 Monate
JC-Virus Antikörperindexalle 6 Monate
MRTJährlich, in bestimmten Konstellationen teilweise häufiger nach Absprache mit dem behandelnden Arzt

Wie lange wird behandelt?

Bei JCV positiven Patienten steigt das Risiko einer PML nach 2 Jahren relevant an. Deshalb muss eine längere Therapie sehr sorgfältig abgewogen werden. Nutzen und Risiko der Einnahme müssen laufend überprüft werden. Ein Abschätzen des Nutzens ist aber oft frühestens nach einem Jahr möglich. Als Hinweise für eine Wirksamkeit werden allgemeine Schubfreiheit und das Fehlen neuer Herde in der MRT angesehen. Deshalb empfiehlt das KKNMS eine Ausgangs-MRT und eine MRT nach 12 und 24 Monaten, um Nutzen und auch mögliche Risiken abzuschätzen.

Was passiert, wenn man Natalizumab absetzt?

Untersuchungen an 1.866 Patienten, bei denen Natalizumab wegen der ersten PML-Fälle 2005 abgesetzt wurde, haben gezeigt, dass meist die Krankheitsaktivität wieder auftritt wie vor Beginn der Therapie. Einige kleinere Untersuchungen haben gezeigt, dass bei einigen Patienten die Schubaktivität vorübergehend sogar stärker ausgeprägt sein kann als zuvor. Durch den plötzlichen Wegfall der Hemmung durch Natalizumab kommt es zu einem verstärkten und raschen Einstrom von Entzündungszellen ins Nervensystem. Dies kann bereits 4 Wochen nach Absetzen bis hin zu 6 Monaten danach auftreten.

Sind Unterbrechungen der Natalizumab-Therapie sinnvoll?

Es gibt keine Daten die dafür sprechen, dass durch eine Therapiepause die Häufigkeit von PML-Erkrankungen gesenkt werden kann. Experten empfehlen, die Therapie nicht zu unterbrechen, um keinen Verlust der Wirkung zu riskieren.

Die Verlängerung des Dosisintervalls wurde in der NOVA-Studie an 499 Patienten (4 Wochen-Intervall: 248 Patienten; 6-Wochen-Intervall: 251 Patienten) untersucht. Diese Patienten waren zuvor mindestens 1 Jahr unter Therapie mit Natalizumab klinisch stabil. Primärer Endpunkt der Studie war das Auftreten neuer Herde im MRT bzw. die Vergrößerung bestehender Herde. Hier wurden 0,05 neue Herde im Standardintervall und 0,20 neue Herde im 6-Wochen-Intervall beobachtet nach 120 Wochen. Dieser Trend war statistisch aber nicht signifikant.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Studie keine Aussage zulässt darüber, ob durch die Verlängerung des Dosisintervalls das Risiko, an einer PML zu erkranken geringer ist.

Dementsprechend wird aktuell nicht empfohlen, die Verlängerung des Dosisintervalls vorzunehmen, mit dem Ziel, das PML-Risiko zu senken.

In der RESTORE-Studie mit 175 Patienten wurde die Natalizumab-Gabe 6 Monate lang unterbrochen und andere Therapien oder keine Therapie eingesetzt. Ca. 20 % der Patienten haben innerhalb von 4 – 8 Wochen nach Absetzen von Natalizumab neue Schübe entwickelt. Ähnliche Effekte wurden beispielsweise auch in jüngeren Daten des französischen MS-Registers bestätigt, sodass ein unkalkuliertes Absetzen der Medikation nicht empfohlen wird.

Häufige Fragen

Schwangerschaft und Stillzeit

Schwangerschaft und Stillzeit

Grundsätzlich sollte während der Behandlung mit Natalizumab und bis ca. drei Monate nach Absetzen des Medikaments eine wirksame Form der Empfängnisverhütung durchgeführt werden.

Bei explizitem Schwangerschaftswunsch einer Patientin kann die Therapie bis zum Eintreten der Schwangerschaft unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung fortgeführt werden, da die Krankheitsaktivität erst zwei bis sechs Monate nach Absetzen des Medikaments wieder zunimmt. Zeitlich fällt dies häufig mit dem zweiten/dritten Schwangerschaftstrimenon zusammen, in dem die Krankheitsaktivität wiederum rückläufig ist. Zudem zeigen die bisherigen Schwangerschaften unter Natalizumab keine wesentlichen Auffälligkeiten im Vergleich zur Normalpopulation. Die Betreuung schwangerer Patientinnen unter Therapie mit Natalizumab sollte an erfahrenen Zentren erfolgen.

In Fällen von hoher Krankheitsaktivität kann, wenn keine alternative Therapie eingeleitet werden kann (weil z.B. schon eine Schwangerschaft eingetreten ist) oder dies nicht gewünscht wird, unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung und klinischer Kontrolle die Therapie mit Natalizumab fortgeführt werden. Die Therapie sollte in diesem Fall durch ein erfahrenes Zentrum erfolgen. Sollte Natalizumab in der Schwangerschaft weitergeführt werden, sollte die letzte Infusion / Injektion vor der 34. Schwangerschaftswoche gegeben werden. Nach der Geburt des Kindes sollte eine Anschlusstherapie erfolgen.

Natalizumab geht in die Muttermilch über, daher sollte unter der Therapie nicht gestillt werden.

Impfungen

Impfungen

Bisher sind keine negativen Effekte auf Impferfolge bekannt. Bisherige Daten sprechen dafür, dass Standardimpfungen unter Natalizumab wirksam bleiben, insbesondere wurden hier in der jüngeren Vergangenheiten Studien mit positivem Ansprechen auf die COVID-19-Impfung veröffentlicht. Sogenannte Lebendimpfstoffe, bei denen lebende, aber unschädlich gemachte Erreger verwendet werden, sollten vermieden werden. Sollten Lebendimpfungen unter Therapie erforderlich sein, sollte vorher in jedem Fall Rücksprache mit einem spezialisierten Zentrum erfolgen.

Infektionen

Infektionen

Grundsätzlich muss Natalizumab beim Auftreten üblicher Infekte nicht abgesetzt werden. Bei schweren Infekten oder gehäuften Infekten muss im Einzelfall jedoch ein Absetzen erwogen werden.

Neutralisierende Antikörper

Neutralisierende Antikörper

Diese Antikörper können den Effekt von Natalizumab aufheben. Wenn unter einer Natalizumab-Therapie eine verstärkte entzündliche Krankheitsaktivität auftritt, muss neben der PML auch ein Wirkungsverlust durch Antikörper diskutiert werden. Hier sollte die Antikörperbestimmung im Blut erfolgen. Bei Nachweis der Antikörper muss der Befund nach 6 Wochen kontrolliert werden. Wenn diese weiter vorliegen, sollte die Therapie mit Natalizumab beendet werden.

Alternativen zu Natalizumab

Welche Alternativen gibt es zu Natalizumab (Tysabri®/ Tyruko® )?

Natalizumab ist nur eine von verschiedenen zugelassenen MS-Therapien. Ihr behandelnder Arzt kann sie über Therapiealternativen informieren.

Literatur

Veröffentlichungen:

  • Ho PR et al. Risk of natalizumab-associated progressive multifocal leukoencephalopathy in patients with multiple sclerosis: a retrospective analysis of data from four clinical studies. Lancet Neurol. 2017 Nov;16(11):925-933.
    Neueste Analyse der Risikofaktoren für eine PML aus 4 Studien mit 37.249 Patienten.
  • O‘Connor PW et al. Disease activity return during natalizumab treatment interruption in patients with multiple sclerosis. Neurology. 2011 May 31;76(22):1858-65.
    Untersuchung zur Rückkehr von Krankheitsaktivität bei 1.866 Patienten aus den Phase-3-Studien, bei denen Natalizumab zuerst wegen des unklaren PML-Risikos abgesetzt wurde.
  • AFFIRM: Polman CH et al. A Randomized, Placebo-Controlled Trial of Natalizumab for Relapsing Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2006; 354: 899-910.
    Zulassungsstudie für Natalizumab.
  • Pucci N et al. Natalizumab for relapsing remitting multiple sclerosis. Cochrane Database Syst Rev. 2011; (10):CD007621. doi: 10.1002/14651858.CD007621.pub2.
    Systematische Metaanalyse aller Studiendaten zu Natalizumab bei schubförmiger MS nach den Regeln der Cochrane Kollaboration.
  • SENTINEL: Rudick RA et al. Natalizumab plus interferon beta-1a for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med. 2006 Mar 2;354(9):911-23.
    Zulassungsstudie mit Natalizumab + Interferon-beta 1a im Vergleich zu Interferon-beta 1a alleine.
  • Schulungsmaterialien des Paul-Ehrlich Institutes: https://www.pei.de (> Vigilanz > Schulungsmaterial > Tysabri) Materialien der deutschen Überwachungsbehörde zur Information von Patienten und Ärzten.
  • ANTELOPE: Hemmer B, Wiendl H, Roth K, et al. Efficacy and Safety of Proposed Biosimilar Natalizumab (PB006) in Patients With Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis: The Antelope Phase 3 Randomized Clinical Trial. JAMA Neurol. 2023;80(3):298–307. doi:10.1001/jamaneurol.2022.5007
    Vergleichsstudie um die Gleichwertigkeit von Tyruko® gegenüber Tysabri® zu untersuchen.

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Autoren

  • Prof. Dr. Christoph Heesen und seine Mitarbeiterinnen Dr. phil. Anne Rahn und Marie Toussaint, Cand. Med.

    INIMS, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

  • Prof. Dr. Clemens Warnke 

    Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinik Köln

  • Prof. Dr. Uwe K. Zettl

    Sektion Neuroimmunologie, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsmedizin Rostock

  • Prof. Dr. Steffen Pfeuffer

    Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Giessen

  • Prof. Dr. Mathias Mäurer

    Klinik für Neurologie und Neurologische Frührehabilitation, Klinikum Würzburg Mitte, Standort Juliusspital, Würzburg

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Autoren

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Wer hat das Handbuch erstellt?

Die vorliegenden Informationen wurden vom krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) in enger Abstimmung mit dem Fachausschuss Versorgungsstrukturen und Therapeutika und dem Vorstand des ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), Bundesverband e.V. erstellt sowie mit den Betroffenenvertretern und Vertretern des Bundesbeirats MS-Erkrankter der DMSG abgestimmt.

Die Pharmafirmen hatten Gelegenheit das Handbuch zu kommentieren.

Gibt es Interessenkonflikte der Autoren?

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Prof. Dr. Christoph Heesen und seine Mitarbeiterinnen Dr. phil. Anne Rahn und Marie Toussaint, Cand. Med.

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Prof. Dr. Clemens Warnke 

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Sektion Neuroimmunologie, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsmedizin Rostock

Prof. Dr. Steffen Pfeuffer

Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Giessen

Prof. Dr. Mathias Mäurer

Klinik für Neurologie und Neurologische Frührehabilitation, Klinikum Würzburg Mitte, Standort Juliusspital, Würzburg