Das Medikament
Kurzgefasst: Alemtuzumab (Lemtrada®) ist ein Antikörper, der Lymphozyten (eine Form der weißen Blutkörperchen) sehr effizient und langanhaltend aus dem Blut entfernt. Insbesondere gilt das für die sog. T-Lymphozyten im peripheren Blut. Daher wird das Medikament auch nur in 2 Zyklen über einen Zeitraum von 2 Jahren verabreicht: Im ersten Jahr erhalten Patienten über 5 Tage das Medikament als Infusion über eine Vene (intravenös), im zweiten Jahr über 3 Tage. Alemtuzumab ist für erwachsene Patienten, die trotz angemessener Behandlung mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie einen hochaktiven schubförmig-remittierenden Verlauf der MS haben zugelassen. Es reduziert die Schubrate und hält die Zunahme der Behinderung auf. Die wichtigsten Nebenwirkungen sind neben Infusionsreaktionen, insbesondere eine erhöhte Infektneigung um die Infusionszyklen herum und das Auftreten sog. sekundärer Autoimmunerkrankungen, d.h. durch die Einnahme des Medikaments können z.B. autoimmune Schilddrüsenerkrankungen ausgelöst werden. Dies kann auch mit längeren Abständen zur eigentlichen Behandlung mit Alemtuzumab passieren. Daher müssen für 4 Jahre nach der letzten Gabe monatliche Laboruntersuchungen durchgeführt werden, um diese Nebenwirkungen rasch zu erkennen.
Was ist Alemtuzumab (Lemtrada®)?
Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper gegen das Oberflächenmolekül CD52, dass auf T- und B-Lymphozyten (besondere Unterformen der weißen Blutkörperchen/Leukozyten) exprimiert wird.
Wie wirkt Alemtuzumab (Lemtrada®)?
Alemtuzumab gehört zu den sogenannten Immuntherapien der MS. Sie wurden unter der Vorstellung entwickelt, dass es sich bei der MS vor allem um eine Erkrankung des Immunsystems handelt. Durch die Bindung an das Oberflächenmolekül CD52 entfernt Alemtuzumab vorübergehend T- und B-Lymphozyten aus dem Blut. Dieser Effekt hält insbesondere für T-Lymphozyten sehr lange an. Man vermutet, dass diese langanhaltende Verminderung bestimmter weißer Blutkörperchen der Grund für die Wirksamkeit des Medikamentes ist. Auch wenn die Effekte auf das Immunsystem lange anhalten, so ist Alemtuzumab 30–45 Tage nach der Infusion kaum oder nicht mehr im Blut nachweisbar.
Für wen ist Alemtuzumab (Lemtrada®) zugelassen?
Alemtuzumab wurde 2013 zur Behandlung der aktiven schubförmigen Multiplen Sklerose zugelassen. Im Jahr 2019 hat die europäische Zulassungsbehörde (EMA) aufgrund von Sicherheitserwägungen die Anwendung von Alemtuzumab auf die Behandlung erwachsener Patienten, die trotz angemessener Behandlung mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie einen hochaktiven schubförmig-remittierenden Verlauf der MS haben, beschränkt. Dies trifft auf Patientinnen und Patienten zu, die eine rasch fortschreitende schubförmig remittierend verlaufende Multiple Sklerose haben, entweder definiert durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr, und mit einer oder mehr Gadolinium-anreichernden Läsionen in der MRT des Gehirns oder mit einer signifikanten Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu einer kürzlich durchgeführten MRT. Außerdem darf Alemtuzumab (Lemtrada®) seitdem nicht mehr bei Patientinnen und Patienten mit bestimmten Herz-, Kreislauf- oder Blutungsstörungen oder bei Patientinnen und Patienten mit anderen Autoimmunerkrankungen als der Multiplen Sklerose eingesetzt werden.
Wie wird Alemtuzumab (Lemtrada®) verabreicht?
Alemtuzumab ist eine sogenannte Induktions- bzw. Impulstherapie und wird daher in 2 Behandlungszyklen als intravenöse Infusion verabreicht. Der erste Zyklus besteht aus 5 aufeinanderfolgenden Tagen, in denen jeweils eine Infusion mit 12 mg Alemtuzumab mit einer entsprechenden Begleitmedikation (Kortison, fiebersenkende Medikamente, Antiallergikum) verabreicht wird. Der zweite Zyklus wird ein Jahr später an 3 aufeinanderfolgenden Tagen mit je 12 mg Alemtuzumab durchgeführt. Aufgrund neuer Krankheitsaktivität benötigen nach Studienlage ca. ein Drittel der Patienten innerhalb von 5 Jahren eine dritte und 0 % eine vierte Behandlungsphase mit 3 Infusionen an 3 aufeinanderfolgenden Tagen. Aufgrund der Sicherheitsauflagen sollte die Behandlung mit Alemtuzumab in einem Krankenhaus mit Spezialisten und der Möglichkeit intensivmedizinischer Behandlung durchgeführt werden, um potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen rasch zu identifizieren und behandeln zu können.
Wirkung
Klinische Studien zur Wirksamkeit von Alemtuzumab (Lemtrada®) bei schubförmiger MS
Zwei große randomisierte kontrollierte Zulassungsstudien (CARE-MS I und CARE-MS II) haben die Wirkung von Alemtuzumab (Lemtrada®), im Vergleich zu einer etablierten Immuntherapie mit Interferon-beta 1a (Rebif® 44 μg), untersucht.
In CARE-MS I wurden 581 Patienten mit schubförmiger MS ohne bisherige Immuntherapie über 2 Jahre behandelt. Eingeschlossen wurden Patienten mit 2 Schüben in den letzten 2 Jahren und 1 Schub im letzten Jahr. Hier zeigt Alemtuzumab (Lemtrada®) einen signifikanten Effekt auf die Häufigkeit von Schüben und das Aufhalten einer Behinderungsprogression.
Da Alemtuzumab (Lemtrada®) in der Praxis und nach aktueller Zulassung nicht als Erstlinien Therapie eingesetzt wird, werden im Folgenden die Ergebnisse der CARE-MS II Studie ausführlicher präsentiert, die Patienten eingeschlossen hat, die trotz Behandlung mit einer Immuntherapie weiterhin Krankheitsaktivität gezeigt haben.
In die CARE-MS II Studie wurden 840 Patienten mit schubförmiger MS eingeschlossen, die trotz Immuntherapie noch Krankheitsaktivität hatten, d.h. 2 Schübe in den letzten 2 Jahren. 426 Patienten erhielten 12 mg Alemtuzumab, 170 erhielten 24 mg Alemtuzumab und 202 erhielten Interferon-beta 1a (Rebif® 44 μg).
Wirkung auf die Verhinderung von Krankheitsschüben
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach zwei Jahren Therapie mit Alemtuzumab (Lemtrada®) oder Interferon-beta 1a noch schubfrei waren. Daraus kann man den absoluten Nutzen (absolute Risikoreduktion) und den relativen Nutzen (relative Risikoreduktion) berechnen.
- Absoluter Nutzen:
In der Alemtuzumab-Gruppe hatten 35 von 100 Patienten Schübe, in der Interferon-Gruppe waren es 53 von 100 Patienten. Die Differenz zwischen den beiden Gruppen beträgt demnach 18 von 100 Patienten (53 – 35 = 18).
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 18 %. - Relativer Nutzen:
Wird die Wirkung bezogen auf die Patienten mit Schüben dargestellt, haben in der Interferon-Gruppe 53 von 100 Patienten einen Schub und in der Alemtuzumab-Gruppe sind es mit 35 von 100 Patienten 18 weniger. Das Verhältnis von 18 zu 53 Patienten entspricht 34 %.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 34%.
Wirkung auf die Verhinderung des Fortschreitens der Behinderung
Die Behinderungsprogression wird innerhalb einer klinischen MS-Studie gemessen, indem man untersucht, wie viel Prozent der Patienten einer Studiengruppe sich während der Studiendauer um einen EDSS-Punkt auf der Behinderungsskala verschlechtert haben (wobei diese Verschlechterung nach 3 Monaten nochmals bestätigt wird, um auch wirklich dauerhafte Veränderung zu bewerten).
Im Folgenden wird erklärt, wie viele Patienten nach 2 Jahren Therapie mit Alemtuzumab (Lemtrada®) oder Interferon-beta 1a keine Zunahme der Behinderung hatten. Dargestellt sind wieder der absolute Nutzen (absolute Risikoreduktion) und der relative Nutzen (relative Risikoreduktion).
- Absoluter Nutzen:
Der tatsächliche Therapieeffekt zeigt sich, wenn man die Anzahl der Patienten mit einer Zunahme der Behinderung in der Alemtuzumab-Gruppe (13 von 100 Patienten) von denen mit einer Zunahme der Behinderung in der Interferon-Gruppe (20 von 100 Patienten) abzieht. Tatsächlich profitieren 20-13=7, also 7 von 100 Patienten von der Therapie.
Entspricht einer absoluten Risikoreduktion von: 7 % - Relativer Nutzen: Wird die Wirkung nur bezogen auf die Patienten mit einer Zunahme der Behinderung dargestellt, haben in der Interferon-Gruppe 20 von 100 Patienten eine Zunahme der Behinderung und in der Alemtuzumab-Gruppe sind es mit 13 von 100 Patienten 7 weniger. 7 von 20 sind in Prozent umgerechnet 35%.
Entspricht einer relativen Risikoreduktion von: 35 %
Langzeitdaten
Über 5 Jahre konnte bei mehr als 90 % der Patienten, die Alemtuzumab in der CARE-MS I Studie erhielten, der Langzeitverlauf verfolgt werden. Bei 1/3 der Patienten war eine weitere Alemtuzumab-Gabe notwendig, bei 2/3 erfolgte keine weitere Immuntherapie, 80 % blieben stabil oder verbesserten sich im EDSS. In CARE-MS II konnten ebenso mehr als 90 % der Patienten verfolgt werden. 59,8 % erhielten keine weitere Immuntherapie. 76 % blieben stabil oder verbesserten sich im EDSS.
Mittlerweile liegen auch Langzeitdaten über 9 Jahre vor. Es zeigte sich über 9 Jahre eine konsistente Wirksamkeit auf die jährliche Schubrate, die Behinderungsprogression, die MRT-Parameter und das Gehirnvolumen. 41% der CARE-MS II Patienten, die in der Kernstudien Alemtuzumab erhielten, benötigten in den Verlängerungsstudien keine zusätzliche Behandlungsphase und keine andere krankheitsmodifizierende Therapie.
Wirkung auf die Ergebnisse der Kernspintomografie (MRT)
In der Kernspintomografie werden Kontrastmittelanreicherungen und sogenannte T2-Herde sichtbar, die als Ausdruck der Entzündung bei MS betrachtet werden. Dabei können Herde größer werden oder ganz neu auftreten.
Über die Studiendauer waren 32 % der Patienten mit Interferon-beta 1a und 54 % der Patienten mit Alemtuzumab (Lemtrada®) frei von neuen oder vergrößerten T2-Herden.
Nebenwirkungen
Welche Nebenwirkungen hat Alemtuzumab (Lemtrada®)?
In CARE-MS II hatten 428 (98 %) der Patienten in der Alemtuzumab-Gruppe und 191 (95 %) der Patienten in der Interferon-beta 1a-Gruppe mindestens eine Nebenwirkung. Dieser Unterschied war statistisch signifikant. Bei 15 (7%) Patienten in der Interferon-beta 1a-Gruppe und bei 14 (3 %) in der Alemtuzumab-Gruppe führten die Nebenwirkungen zum Abbruch der Behandlung.
Die Nebenwirkungen, die bei den Patienten der CARE-MS II Studie auftraten, lassen sich in drei Kategorien einteilen:
- Infusionskreationen
- Infektionen
- Sekundäre Autoimmunerkrankungen
Die häufigsten Nebenwirkungen im direkten Vergleich